Nelly Sachs - eine Erinnerung und Mahnung zum 9. November

9. November - an diesem Tag wollte ich in Jerusalem eigentlich das Grab von Oskar Schindler besuchen. In Berlin habe ich mir heute dann bewusst das Haus der Wannsee-Konferenz ausgesucht. Ein wunderbares Gebäude mit einer schrecklichen Geschichte.

In Erinnerung an die Geschichte des Entsetzlichen ein Gedicht von Nelly Sachs:

 

 

Und wenn diese meine Haut zerschlagen sein wird,

so werde ich ohne mein Fleisch Gott schauen

Hiob

 

O DIE SCHORNSTEINE

Auf den sinnreich erdachten Wohnungen des Todes,

Als Israels Leib zog aufgelöst in Rauch

Durch die Luft –

Als Essenkehrer ihn ein Stern empfing

Der schwarz wurde

Oder war es ein Sonnenstrahl?

 

O die Schornsteine

Freiheitswege für Jeremias und Hiobs Staub –

Wer erdachte euch und baute Stein auf Stein

Den Weg für Flüchtlinge aus Rauch?

 

O die Wohnungen des Todes,

Einladend hergerichtet

Für den Wirt des Hauses, der sonst Gast war –

O ihr Finger

Die Eingangsschwelle legend

Wie ein Messer zwischen Leben und Tod –

 

O ihr Schornsteine,

O ihr Finger,

Und Israels Leib im Rauch durch die Luft!

(Nelly Sachs)[1]

 

Dem Gedicht erstmals begegnet (im wahrsten Sinn des Wortes!) bin ich bei einer Führung durch das jüd. Berlin mit dem Theologen Gerhard Begrich, der uns am Ende eines langen Rundgangs das Denkmal ´Der verlassene Raum` von Karl Biedermann am Koppenplatz im ehemaligen Scheunenviertel zeigte. Im Gegensatz zu dem monumentalen Denkmal für die ermordeten Juden in der Nähe des Brandenburger Tores ist es ein zurückhaltendes Denkmal. Eine begehbare Plastik ganz aus Metall. Auf einer rechten Bodenplatte ist ein alter gedrechselter Tisch zu sehen, daneben ein Stuhl, ein zweiter, umgekippt auf dem Boden liegend – ein überstürzt verlassener Raum. Warum? Was soll das Ganze? Was steht dahinter? Erst die Gedichtzeilen aus den letzten beiden Strophen von Nelly Sachs` Gedicht, die als Inschrift die gesamte Bodenplatte umranden, sind Sehhilfe und machen das Denkmal verstehbar. Sie erst lassen den Betrachter nach denen fragen, die hier, an dem Tisch, an dem keiner mehr sitzt, wohnten. Nicht die unfassbare Zahl der Toten, sondern die konkrete Geschichte eines Einzelnen wird vor Augen gestellt. Wer sich darauf einlässt und sich ein wenig Zeit nimmt, kann dann fast die Stiefelschritte hören, die die Treppe zur Wohnung heraufkommen, das Pochen an der Tür, die kalte Stimme, die den Namen nennt, zum Mitkommen auffordert… Eine Familie wird abgeholt, abtransportiert. Vielleicht stehen die Nachbarn hinter ihrer verschlossenen Wohnungstür und beobachten mit Abstand das Geschehen, mitleidig oder gleichgültig achselzuckend. Nicht lange wird die Wohnung verlassen und leer zurückbleiben. Bald schon wird sie neu bewohnt sein. Und niemand wird nach denen fragen, die früher hier wohnten. Wohin sie kommen, wo sie bleiben? So genau weiß das niemand. So genau will das aber auch niemand wissen. Die Gedichtzeile spricht es aus. Das Ziel der Abtransporte waren für so viele „die Schornsteine auf den sinnreich erdachten Wohnungen des Todes“. – Eine besondere Form der Begegnung mit einem Gedicht, das mich seitdem begleitet und über das ich in diesem Zusammenhang noch näher nachdenken möchte.

Gedichte bei Nelly Sachs haben immer eine sehr dichte, eine verdichtete Sprache. Weil sie dem Wort eine Kraft zutraut, ist jedes einzelne Wort wichtig, kann das einzelne Wort bedeutsam werden. Das zwingt den Leser zur Langsamkeit. Bildfragmente und Wortfetzen werden zusammengefügt. Indem sie andeutet und in ihren Bildern gleichzeitig sehr genau ist, sucht sie das Unfassliche überhaupt erst zu fassen, ringt sie darum, für das sprachlos machende Entsetzen überhaupt erst eine Sprache zu finden. In der Laudatio zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels hat Werner Weber das beschrieben, indem er über ihre Dichtung sagte: „Wiederherstellung der Sprache. Das ist der Vorsatz (…) nach welchem Nelly Sachs das Wort ergreift, dem Worte dient. (…) Und immer wieder tritt dieser Mensch in ihrer Dichtung stumm hervor, wie ausgeatmet vom Wort, und erzählt uns mimisch seinen Weg.“ Ihre Sprache und ihre Bilder sind darum nicht einfach austauschbar und durch Interpretation zu übersetzen, um sie dann um so leichter zu verstehen. Hans Magnus Enzensberger, selbst Lyriker sowie damals Lektor bei Suhrkamp und einer der ersten Förderer von Nelly Sachs in Deutschland, mahnt darum zu einer zurückhaltenden Annäherung, um ihre Gedichte in der Lauge der Deutungen nicht aufzulösen. Denn: Nelly Sachs „hat weder Verfremdung noch Kalkül im Sinn, ihre Poesie ist weder Codeschrift noch Vixierbild; wir haben es hier mit Rätseln zu tun, die in ihrer Lösung nicht aufgehen, sondern einen Rest behalten – und auf diesen Rest kommt es an. Da kommt Interpretation leicht zu früh. Das Werk fordert vom Leser weniger Scharfsinn als Bescheidenheit; es will nicht dingfest gemacht, nicht übersetzt sein, sondern geduldig und genau erfahren werden. Nicht was es bedeutet, wäre also hier zu sagen; wir können uns allenfalls Hinweise, Vorschläge erlauben, um die Lektüre auf den Weg – auf einen möglichen Weg – zu bringen.“ Entsprechend kann es nicht ausreichen, die Motive zu ordnen und zu entziffern. Ihre Dekodierung kann hilfreich und notwendig sein. Sie ist nur ein erster Schritt, auf den allerdings nicht verzichtet werden kann.

Wie wurde sie überhaupt zur Dichterin? – Viel wissen wir über sie und ihre Biographie nicht. Das ist kein Zufall. Sie selbst wollte das so und verweigerte jede nähere Auskunft über ihr früheres Leben. Am 10. Dez 1891 als einziges Kind in einer assimilierten jüd. Familie in Berlin geboren, schrieb sie Gedichte bereits seit ihrem siebzehnten Lebensjahr, ließ später aber nur gelten, was sie seit 1943/44 verfasst hat. Ihre Flucht aus Deutschland, gemeinsam mit ihrer kranken Mutter, gelang im letzten Augenblick. Am 16. Mai 1940, der Befehl zum „Abtransport“ war bereits zugestellt, flog sie mit einem Visum in einer der letzten Linienflüge nach Stockholm. Möglich geworden war das durch die Unterstützung der Freundin Gudrun Harlan/Dähnert und durch Selma Lagerlöff. Früh schon dichtet sie mit ihren „Grabschriften in die Luft geschrieben“ und ihren Gesängen der „Chöre nach der Mitternacht“ gegen das Vergessen an, indem sie an die „Wohnungen des Todes“ erinnert. Der Band erscheint 1947, zunächst nicht in Westdeutschland, sondern im Aufbau Verlag in Ostberlin, mit den bereits im Winter 1943/44 aufgrund ihrer Erfahrung der Ermordung ihres geliebten Jugendfreundes durch nationalsozialistischen Terror und der ersten Nachrichten von den Vernichtungslagern entstandenen Gedichten. In einem Brief an Carl Seelig schreibt sie 1946 über ihre Dichtung: „Aber es muss doch eine Stimme erklingen und einer muss doch die blutigen Fußspuren aus dem Sande sammeln und sie der Menschheit aufweisen können. Nicht nur in Protokollform.“ Den zum Schweigen gebrachten Opfern will sie eine Stimme geben. Entsprechend heißt die Widmung für diesen Band: „Meinen toten Brüdern und Schwestern“. "Nimm dich jedoch in Acht (vergiss nicht), was du mit eigenen Augen gesehen (und die Worte, die du gehört) hast, lass es dir Zeit deines Lebens nicht aus dem Sinn kommen! Lehre es deine Kinder und Enkelkinder (präge sie ihnen ein)!“, heißt es in Dtn 4, 9. זכור, erinnere dich, gedenke! Nelly Sachs steht mit ihren Gedichten in dieser besonderen jüdischen Tradition.

Bei ´O die Schornsteine` handelt es sich um das erste, die Lyriksammlung ´In den Wohnungen des Todes` einleitende, ungereimte Gedicht in nahezu freien Rhythmen mit vier Strophen unterschiedlicher Länge. Enden die ersten beiden jeweils mit einer kurzen Frage, steht am Ende der dritten ein Pause setzender Gedankenstrich, während die vierte und damit letzte Strophe mit einem Ausrufezeichen schließt. Der Einsatz jeder Strophe, der für das frühe Exilswerk Nelly Sachs typisch ist, erfolgt jeweils durch ein klagendes O. Das rhetorische Mittel einer Apostrophe wird hier bewusst und sehr durchdacht eingesetzt. Insgesamt sechs Mal begegnet es im gesamten Gedicht, in den ersten beiden Strophen jeweils nur zu Beginn, als Einsatz, in den letzten beiden wird es aber auch innerhalb der Strophe nochmals und damit in immer kürzer werdenden Abständen wiederholt. Es ist also eine deutliche Steigerung des klagenden Ausrufs erkennbar. Ebenso ändert sich die Ausrichtung. Ist es in den ersten drei Klagen ein Ausruf über (O die…), ist es in den letzten drei ein Ausruf an (O ihr…). Schrecken und Entsetzen sind so deutlich akzentuiert. Über das ganze Gedicht, vielleicht kann man sogar sagen, über den ganzen Gedichtband, steht schließlich ein aus dem bibl. Hiobbuch entnommenes Zitat. Es ist in den Gedichtstext insofern nochmals eingebunden als auch Hiobs Name an zentraler Stelle erneut genannt wird. Hiob, desssen Leiden und Klagen in der Bibel eindrücklich beschrieben werden, aber auch der zum Gespött gewordene biblische Prophet Jeremia, werden hier von Nelly Sachs stellvertretend für das Volk Israel, sein Leiden und Sterben genannt. Allein durch den Schornstein findet Israels Leib, aufgelöst in Rauch, noch den Weg in die Freiheit. In gebrochener Weise klingt auch darin ein zentrales biblisches Motiv an: Der Weg des biblischen Volkes Israel aus der Knechtschaft und Unterdrückung Ägyptens. Der Durchzug durch das Meer damals wird heute zum Durchgang durch die Gasöfen und die Backsteinsäulen der Schornsteine. Die das Gedicht bestimmenden Bildmotive sind so zum einen die Schornsteine, der Rauch und die Finger. Sie alle kommen wiederholt vor. Die Schornsteine, die dem Gedicht auch den Titel gegeben haben, und der Rauch drei Mal, die Finger zwei Mal. Es sind keine Metaphern im üblichen Sinne. Hieße das doch, entsprechend der aristotelischen Poetik, dass das wörtlich Gesagte im übertragenen Sinn zu verstehen wäre und eine eigentlich andere Bedeutung hat. Hier aber ist die Sprachwelt des Gedichts bewusst konkret, noch ganz an der finstersten Realität orientiert, registriert, beschreibt, nimmt sie auf, was vorgegeben ist. Sind die Schornsteine doch nichts anderes als die Kamine der Verbrennungsöfen in den Vernichtungslagern, die dazu führen, dass der Rauch das Einzige ist, was vom Leben bleibt, und erinnern die Finger an die Selektion an der Lagerrampe, die die Ankommenden mit einer erbarmungslosen Geste voneinander trennt, zwischen Lager und damit zumindest noch kurzfristigem Leben oder sofortigem Tod entscheidet. In gedrängter Kürze wird beschrieben, dass der leuchtende Stern und der helle Sonnenstrahl durch das Geschehen zum schwarzen Essenkehrer verkommen. Indem Stern und Sonne im Rauch die dem mörderischen Schicksal Entkommenen empfangen, verfinstert sich der Himmel. Alles Lichtvolle verschwindet, es überdauert allein ein trostloses Dunkel. Mehr als 75 Jahre nach Ende der NS-Terrorherrschaft kann das Neue und das Befremden darüber kaum noch wirklich empfunden werden, dass diese Schrecken in der Lyrik aufgegriffen und ausgerechnet ihre symbolhaften, aber realen Bilder zum Gegenstand gemacht werden. Besteht heute doch eher die Gefahr im Verschleiß dieser Bilder, dass ihr häufiges, aber oft nur oberflächliches Zitat zur Trivialität verkommt und ihnen so das Erschrecken und die Ungeheuerlichkeit genommen werden. Damals, in der Zeit der Verdrängung, des nicht-wahrhaben-Wollens, der „Unfähigkeit zu trauern“ (M. Mitscherlich) war das völlig anders, wollte man darüber weder nachdenken noch all das sehen oder davon hören. Doch nur weniges reicht Nelly Sachs in ihrem Gedicht, um die Vernichtungslager und die Arbeit seiner Mörder anzudeuten. Die entsetzte, immer wieder mit einem ausrufenden O eingeleitete Klage ist damit auf einer ersten Ebene noch ganz an der Wirklichkeit, den realen Ereignissen, gleichsam an der Außenseite des Schreckens orientiert und insofern für die Lyrik von Nelly Sachs nicht ganz typisch, die stärker durch metaphorische Formen bestimmt wird. Tritt doch an die Stelle einer auch nur ansatzweise konkreten Darstellung später mehr und mehr eine verfremdende, manchmal nur schwer zu fassende Bildlichkeit. Vielleicht ist die in dem früheren Gedicht hier noch leichter verstehbare Konkretheit auch der Grund, dass, wenn überhaupt eines ihrer Gedichte in Anthologien begegnet, meist dieses abgedruckt wird. Und als Google Nelly Sachs aus Anlaß ihres 127. Geburtstages 2018 am 10. Dez. ein Doodle widmete, knüpfte die schwarz-weiße Illustration ebenfalls an dieses Gedicht an. Denn: Sie selbst ist nicht zu sehen, nur eine Schreibmaschine, die Umrisse von Berlin, ihrer Geburtsstadt, und Stockholm, ihrem Exil und späterem Lebensmittelpunkt, sowie eben die Schornsteine, aus denen Rauch aufsteigt, in dem Hände sich zu begegnen versuchen. Der Schornstein, der Rauch, die Finger – das ist allerdings nur die oberste Bedeutungsschicht des Gedichtes. Das Gedicht selbst ist vielschichtiger. Neben der Benennung der Realität sind auch die stärker metaphorischen Bilder zu beachten. Von sinnreich erdachten oder auch von einladend hergerichteten Wohnungen des Todes ist die Rede und von einem Stern, der schwarz wurde. Fragt man sich bei einem ersten Lesen, wie können Schornsteine zu Freiheitswegen werden oder der Wirt des Hauses sonst Gast sein? Mit diesen Motiven tut sich bereits eine zweite Bedeutungsschicht des Gedichtes auf. Sie ist charakterisiert durch das literarische Mittel der paradoxen Verbindungen. Das, was nicht zusammen zu gehören scheint, wird zusammengebracht: Nicht das Grab und der Tod sondern die Wohnungen und der Tod; der Stern, der nicht hell leuchtet sondern der schwarz wurde; ausgerechnet die Schornsteine, die nicht etwa als letzter Ausgang sondern als Freiheitswege für den Staub verstanden werden; der Tod, der nicht mehr nur seltener Gast sondern widernatürlich zum Wirt geworden ist oder, auch das eine mögliche Lesart, der Mensch, der nicht etwa Gast auf Erden sondern allein Gast des Todes ist. Eine vielsagende Wendung ist auch die Rede von „den sinnreich erdachten Wohnungen des Todes“ gleich in der zweiten Zeile. Sinnreich erdacht – das lässt an die perfide Hinterhältigkeit der Täuschung denken wie sie etwa in den als Duschen mit Umkleideraum getarnten Gaskammern gegeben war. Die erst auf dem Hintergrund der Vernichtungslager überhaupt erst verstehbare Wortverknüpfung von „Wohnungen des Todes“ zeigt, Ziel allen Denkens und jeder Planung ist nicht mehr das Leben. Dem Tod ist eine alles dominierende und beherrschende Präsenz eingeräumt. Wohnungen werden nicht mehr geplant und gebaut, um darin zu leben sondern allein, um darin zu sterben. Es sind irritierende Verbindungen, Verdrehungen und Vertauschungen dessen, was bisher verlässlich galt, nun aber seine Gültigkeit verloren hat. Die Sinnverkehrung vertrauter, harmlos klingender Worte des Alltags, wie Schornstein, Wohnungen, einladend oder Finger, veranschaulicht wie sich die Wirklichkeit grausam verkehrt und das bisher Selbstverständliche keine Geltung mehr hat. Im Herrschaftsbereich des totalen Todes bleibt nichts mehr wie es war. Beschrieben wird eine auf den Kopf gestellte Welt, in der der Tod nicht nur das Leben beendet, nicht nur seine Grenze bildet, sondern der Tod das Zentrum und die alles bestimmende Wirklichkeit ist. Das Leben und die Wirklichkeit scheint darum, wenn überhaupt, dann nur noch im Paradox fassbar. Schließlich ist, als dritte Bedeutungsebene, das Verhältnis des vorangestellten Hiobverses zum Gedicht zu bedenken. Seine genaue Stelle im Hiobbuch ist nicht angegeben. Es handelt sich um Hi 19, 26. Der Vers steht am Ende der Antwort Hiobs auf die Rede des Bildad. Der engere Kontext (Hi 19, 25-27) ist im Rahmen der christl. Rezeptionsgeschichte einer der zentralen und am häufigsten interpretierten, aber auch, angefangen von H. Schütz über G.F. Händels bis zu J. Brahms, immer wieder vertonten Texte des Hiobbuches. Allerdings meist unter der falschen Voraussetzung, dass diese Verse im Sinne einer christologischen sowie eschatologischen Um-Interpretation zu einem altl. Auferstehungszeugnis wurden. Es wäre interessant zu wissen, ob Nelly Sachs darum gewusst hat. Weil darüber aber nichts bekannt ist, sind wir allein an den vorliegenden Text verwiesen. Immerhin sind die unterschiedlichen Tempi der benutzten Verben innerhalb des Motto (jeweils im Futur: „…zerschlagen sein wird, so werde ich…“) einerseits und innerhalb des Gedichts andererseits (bis auf eine Ausnahme am Ende: „…Einladend hergerichtet…“ stets im Imperfekt: „…zog… wurde… war… erdachte… baute…“) auffällig. Wie also verhalten sich Gedicht und Hiob-Motto zueinander? Deutet sich in seiner Voranstellung ein, wenn auch leises, kühn-trotziges Dennoch der Hoffnung an? Entsprechen und verstärken sich Motto und Gedicht gegenseitig oder stehen sie eher im Gegensatz? Nimmt das Gedicht die Hoffnung des zerschlagenen Hiob auf oder setzt es die Akzente bewusst anders und widerlegt letztlich dessen Suche nach Trost? Im Gedicht selbst begegnet Hiob erneut an zentraler Stelle, nämlich in der neunten von zwanzig Gedichtzeilen und damit fast genau in der Mitte. Gemeinsam mit dem Propheten Jeremia steht er stellvertretend für das jüd. Volk, für Verfolgung und Leiden, Schmerz und Verlust. Biblisch verbindet sie beide einerseits die äußerste Leiderfahrung und andererseits der verzweifelte Wunsch, doch gar nicht erst geboren worden zu sein. Denn: „Ausgelöscht sei der Tage, an dem ich geboren bin“ (Hi 3, 3a) klagt Hiob und nicht anders Jeremia, wenn er sagt: „Verflucht sei der Tag, an dem ich geboren bin“ (Jer 20, 14a). Innerhalb des Gedichtes ist es ihrer beider Staub, der durch die Schornsteine seine Freiheitswege findet. „… die Schornsteine Freiheitswege (…) Weg für Flüchtlinge aus Rauch...“ Darf man, muss man die Aussage wörtlich nehmen – dann allerdings als eine, die allenfalls einer jüd. Überlebenden zustehen würde?! Der Tod zumindest kann dem Entsetzlichen und der Gewalt ein Ende setzen. Er allein wird zum letzten Ausweg. Oder ist es eine gebrochene Aussage, mit ironischem Ton zu hören, auch dies bewusst als äußerstes Paradox formuliert? Vielleicht sogar in irritierender Anspielung auf eine zynischen Bemerkung von SS-Wachmännern, die vielfach überliefert ist: „Der Eingang in ein KZ führt durch das Haupttor, aber raus geht`s nur durch den Schornstein.“ Damit wäre auch diese Zeile nicht im Sinne einer Metapher, sondern als bitteres Zitat einer grauenhaften Wirklichkeit zu verstehen, würde sich nochmals zeigen, dass dieser Wirklichkeit allein durch eine Montage der nackten Realität, nämlich dem Zitat und der Nennung einzelner Teile der Todesmaschinerie, beizukommen ist. Die Widersinnigkeit wäre bis zum Äußersten gesteigert. Die Schornsteine als Freiheitswege für Hiobs Staub - eindeutig festzumachen ist der Sinn dieser Formulierung nicht. Wofür überhaupt steht bei Nelly Sachs, von W. Jens selbst als „Schwester Hiobs“ bezeichnet, sein Name? Ist es allein die Erinnerung an sein Leiden, Hiob der schuldlos an Körper und Seele Gequälte? Ist Hiob der Inbegriff des stummen Leidens, der Dulder, der sein Schicksal etwa annimmt (vgl. Hi 1, 21)? Oder ist es Hiob der Rebell, der Gott bis an die Grenzen herausfordert? Schon im bibl. Text ist das weder eindeutig noch ganz voneinander zu trennen. Bei Nelly Sachs begegnet Hiob noch in anderen ihrer Texte. Ein Gedicht ist ihm sogar gewidmet. Ein Vergleich ist mit Blick auf diese Fragen hilfreich. Ihr mit Hiob überschriebenes Gedicht setzt mit der aus Hi 23, 8f entliehenen Metapher der Windrose ein und spricht ihn mit „O du Windrose der Qualen“ an. In keiner der Himmelsrichtungen, so zumindest der bibl. Kontext, ist Gott erfahrbar, Hiob damit Symbol universaler Gottesferne. Und, so das Gedicht weiter: „Wo du stehst, ist der Nabel der Schmerzen“ – Hiob also die Verkörperung von Leid schlechthin. Ganz im Gegensatz zur bibl. Vorlage dann allerdings: „Deine Stimme ist stumm geworden, denn sie hat zuviel Warum gefragt“. Eine entscheidende Zeile! Weder die Reden von Hiobs Freunden noch die Theophanie finden Erwähnung. Bei Nelly Sachs bleibt Hiob antwortlos, schweigt und verstummt er, verliert er seine Stimme – „den Würmern und Fischen“ gleich. Nirgends wird Gott überhaupt genannt. Hiob ist einsam, von Gott und Mensch verlassen. Dennoch bekommt das Gedicht, eingeleitet durch ein Aber, in seinen letzten beiden Zeilen eine gewisse Wendung: „aber einmal wird das Sternbild deines Blutes alle aufgehenden Sonnen erbleichen lassen“. Die Perspektive verschiebt sich. Wenn auch vieles offen, unbestimmt, widersprüchlich bleibt. Die benutzten Bilder reiben sich hart aneinander. Positiv konnotierte Motive wie „Sternenbild“ und „alle aufgehenden Sonnen“ werden mit negativen wie „Blut“ und „erbleichen lassen“ zusammengebunden. Ein eindeutiger Umschwung ins Hoffnungsvolle ist das nicht. Allein das einleitende Aber trägt die Beweiskraft hin zu einer erwarteten, positiven Verwandlung, deren Zeitpunkt („aber einmal“) und deren Inhalt offen und rätselhaft bleiben. Es ist fast, als ob Nelly Sachs, kurz vor dem Verstummen, auf das dem Dunkel widersprechende Dennoch einer Zukunft beharren und verpackte ihr Beharren auf Hoffnung zugleich in paradoxe und darum nicht faßbare Formulierungen, um sie vielleicht sogar darin zu verstecken. – Soweit einige wenige Schlaglichter zu Nelly Sachs später geschriebene Hiob-Gedicht. Inwiefern können sie als Verstehenshilfe für das früher entstandene Gedicht O die Schornsteine dienen? Hiob ist auch hier Symbolgestalt unfasslichen Leids, steht stellvertretend für das jüd. Volk und seine Ermordung. Allein sein Staub ist geblieben. Auch hier bleibt Hiob im Gedicht stumm, ist er Objekt. Das ganze Gedicht ist als eindringliche Klage formuliert. Aber ein wirkliches Gegenüber, ein konkreter Adressat dieser Klage, sei es Gott oder seien es auch die Täter, fehlt. Erscheint Gott im als Motto vorangestellten Hiobzitat als Ziel der Hoffnung wird er im Gedicht, man muss doch wohl annehmen bewusst, kein einziges Mal erwähnt. Das erweckt fast den Eindruck, als wäre ein eigenes Sprechen von Gott nicht mehr möglich sondern höchstens im Nachsprechen, im fremden Zitat eines Bibelwortes. Dass die Täter nicht oder allenfalls sehr zurückhaltend in dem Hinweis auf ihre Finger, also ihre Tätigkeit an der Rampe, erwähnt werden, hat, denn das ist für ihre gesamte Dichtung durchaus typisch, in den 50er/60er Jahren dazu geführt, Nelly Sachs als große Dichterin der Versöhnung zu sehen bzw. zu vereinnahmen. Kommt es so nicht zur Anklage, weder Gott noch den Tätern gegenüber, bleibt nur die Klage über die Instrumente des Todes, seine Schornsteine, Wohnungen und Finger. Wirkliche und eindeutige Hoffnung drückt sich allein im „Gott schauen“ innerhalb des Hiob-Zitates aus. Ähnlich wie an dem Aber im Hiob-Gedicht hängt daran alles. So ist auch hier die Balance, das bewußte in-der-Schwebe-halten von verzweifeltem Verstummen und der Andeutung einer vielleicht doch möglichen Verwandlung durchgehalten. Jede Eindeutigkeit wird unterlaufen, jede Aussicht auf eine unauslöschliche Hoffnung bewusst wieder durchkreuzt und in Frage gestellt. Bliebe darum am Schluss auf die entscheidende Frage: Beschreibt Nelly Sachs in ihrem Gedicht O die Schornsteine nur die Finsternis des Schreckens oder bleibt es nicht nur bei der undurchdringbaren Dunkelheit, sondern weist sie, deutet sie zumindest einen Weg darüber hinaus an? noch eine ganz Lesart möglich, die davon ausgeht, dass angesichts des Unfaßbaren ganz bewusst weder Hoffnung und ein möglicher Trost gegeben noch jede Hoffnung und Trost unwiderruflich negiert werden soll, sondern dass von Nelly Sachs mit Absicht eine Leerstelle gelassen ist, die so oder auch so gefüllt werden kann. Die Hoffnung bliebe bestenfalls eingespannt in den Modus eines vagen, nicht aufgelösten Widerspruchs. Versuche einer näheren Konkretion oder auch nur eine Festlegung in die eine oder andere Richtung müßten dann notwendig scheitern. Aber eindeutig ist selbst das nicht. Vielleicht sind wir aber auch da angekommen, wo es mit Enzensberger einzusehen gilt: „wir haben es hier mit Rätseln zu tun, die in ihrer Lösung nicht aufgehen, sondern einen Rest behalten – und auf diesen Rest kommt es an.“ Einem ihrer Gedichtzyklen hat Nelly Sachs immerhin selbst den Titel „Glühende Rätsel“ gegeben, wehrt sie sich in einer Gedichtzeile ausdrücklich gegen jeden voreiligen Trost, gilt doch: „die Wunde (…) zwischen Gestern und Morgen, die offen bleiben muss, die noch nicht heilen darf“.



[1] N. Sachs, Zeichen im Sand. Die szenischen Dichtungen (Frankfurt 1962) S.64

 


                                         

   Das Kreuz mit dem Kreuz

Wer durch Jerusalem geht, begegnet ihm unweigerlich überall. Gleichgültig ob in der Altstadt oder im Westteil der Stadt, an jeder größeren Kreuzung oder Straße sieht er auf das Kreuz. Die Kirchen, gleichgültig welcher Konfession, setzen es zum Zeichen auf Ihre Türme, Kuppeln, Dachgiebel. Zum Zeichen aber wofür? Ist es ein Zufall, dass gerade Ende des 19. Jahrhunderts in Jerusalem seitens der europäischen Länder eine große christliche Bautätigkeit einsetzt? Es ist nicht nur der deutsche Kaiser Wilhelm II! Gerade angesichts der Grausamkeit der christlichen Geschichte mit und unter dem Kreuz fällt es mir schwer, das Kreuz in dieser Stadt mit der gleichen Selbstverständlichkeit zu sehen wie etwa in Deutschland.

Und darum hier ein paar Gedanken zu einem weiteren literarischen Text, der ebenfalls in das Umfeld der Geschichte des Entsetzlichen gehört - Franz Werfels Romanfragment ´Cella oder Die Überwinder`

Zunächst: „Cella oder Die Überwinder. Versuch eines Romans“[1] Es ist ein an mehreren Stellen lückenhaft gebliebenes und nicht zu Ende geführtes Romanfragment, das der Österreicher Franz Werfel nach seiner Flucht bereits im September 1938, nicht nur als Jude in Gefahr sondern auch als ein den Nazis verhasster Schriftsteller, ein halbes Jahr also nach dem erzwungenen ´Anschluss` Österreichs, in Frankreich als Gegenwartsroman zu schreiben beginnt. Anhand der Geschichte des jüd. Rechtsanwalts Hans Bodenheim und seiner Familie werden die polit. Ereignisse in Österreich zwischen Ende 1937 und dem Einmarsch der Deutschen sowie die antisemitischen Exzesse im März 1938 beschrieben. Steht zunächst die dem Roman den Titel gebende Tochter Cella ganz im Mittelpunkt, ein musikalisch hochbegabtes Mädchen, das sich auf ihr erstes großes Konzert vorbereitet, kommt im weiteren Verlauf nur noch das Schicksal ihres Vaters in den Blick, der als Jude in ´Schutzhaft` genommen wird und allein durch die Vermittlung eines alten Freundes freikommt und in die Schweiz fliehen kann. Anders als in seinem bedeutenden Roman „Die vierzig Tage auf dem Musa Dagh“, der vom Widerstand gegen den Genozid der Armenier 1915/16 in der Türkei erzählt, und in dem, obwohl bereits im November 1933 erschienen, Juden auch den eigenen Widerstand im Warschauer Ghetto „wiedererkannten“, ist in diesem Romanfragment noch vieles deutlich unfertig und unabgeschlossen. Entsprechend wurde der Text auch nicht von Werfel selbst, sondern erst nach dessen Tod posthum 1952 als Vorabdruck in der „Neuen Zeitung“ bzw. 1954 im Rahmen der „Gesammelten Werke“ veröffentlicht. Allerdings lassen einzelne Szenen und Leitmotive bereits erkennen, dass der nicht abgeschlossene Entwurf Potential für einen großen Roman gehabt hätte. Eines dieser Motive ist das auf den letzten Hundert Seiten immer wieder vorkommende Kreuz sowie das neunte Romankapitel: „Die Geschichte des Kaplans vom wiederhergestellten Kreuz“, das Werfel als Erzählung bereits selbst 1942 in Amerika veröffentlicht hat. Mit seinem Roman will Werfel nämlich nicht nur die „dumpfe“, ebenfalls ein den Roman durchziehendes Motiv, politische Zeitgeschichte dokumentieren, sondern er beschreibt sie zugleich auf dem Hintergrund der Frage nach Glaube und Religion. Darum wird das Kreuz als das Symbol christl. Glaubens und Religion bewusst gleichzeitig mit Beginn der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft mehrfach in unterschiedlichen Situationen erzählerisch zum Thema. Es ist, als sollte ausgelotet werden, wofür es (noch) steht. In verschiedenen Szenen und von verschiedenen Personen werden gleichsam verschiedene Möglichkeiten durchgespielt. Manchmal in ausführlichen Dialogen, manchmal auch nur in kurzer, prägnanter Erwähnung. So etwa (Kapitel 11) wenn erzählt wird, wie die Hauptfigur Hans Bodenheim nach ihrer Festnahme als Jude in eine bereits überfüllte Schulturnhalle verschleppt wird, dort Erniedrigung und Willkür erlebt, schließlich in einen für die Aburteilung improvisierten Konferenztraum gebracht wird, und es dann ausdrücklich heißt: „An der Wand zeigte ein helles Kreuz inmitten der grünen Tapete die Stelle an, wo die Sieger über Christus das Kruzifix abgenommen hatten“ (S.258) Das Kreuz wurde entfernt. Die, die jetzt das Sagen haben, nahmen es von der Wand. Das, wofür es steht, hat hier keinen Platz. Geblieben ist eine Leerstelle. Das Kreuz ist nicht mehr zu sehen, zu erkennen ist aber, dass es fehlt. Mit seiner Entfernung greifen Fanatismus und Hass um sich, fehlt die elementarste Form der Menschlichkeit. Wenige Wochen später trifft Hans Bodenheim auf seinen alten Freund, der mittlerweile „das goldne Hakenkreuz an seinem Rock“ (S.278) trägt, ihm aber zur Freiheit verhelfen will. Beide kommen ins Gespräch. Der das Parteiabzeichen tragende Freund erklärt ihm, was ihn an der neuen Bewegung, den Nazis, so anzieht, sei „die Idee einer totalen Weltherrschaft ohne sittliche Fessel“ (S.284). Als Bodenheim daraufhin (als Jude!) auf die Kirche verweist, „die immer den längsten Atem gehabt hat“ (ebd.) entgegnet der, kaum einen nennen zu können, „der an die Gottheit des kleinen Juden aus Galiläa wirklich glaubt. (…) Die Zeit ist nicht mehr fern, in der man in den Museen unsere Kruzifixe aufbewahren wird wie heute die griechischen Götterbilder.“ (S.286) Es ist nur ein kurzer Dialog, aber in fast jedem Halbsatz mit weitreichenden Aussagen. Denn: Das Kreuz als museale Erinnerung – das könnte einfach als Beschreibung des Bedeutungsverlustes der Kirche gelesen werden, der in den 20er/30er Jahren bereits zu erkennen war. Dass „die Kirche auf Rutschbahn steht“ (ebd.), sie also immer weniger zu überzeugen vermochte. Werfel nimmt damit aber eine viel weiterreichende Perspektive ein. Er lässt den Freund nämlich fragen: „Was kann ich von der Zukunft einer Institution halten, deren dogmatische Grundlagen längst versunken sind?“ (S.285f). Die Krise, der Bedeutungsverlust der Kirche, hat also eine tief sitzende Ursache. Es ist, wie der Freund selbst es zu Bodenheim sagt, der weithin fehlende Glaube „an die Gottheit des kleinen Juden aus Galiläa“ (S.286). Diese kurze christologische Aussage lässt aufhorchen, zumindest auf dem Hintergrund des Jahres 1938. Vielleicht spielt sie auf die alte Formel des Nizänums an: Christus ist wahrer Gott und wahrer Mensch. Auf jeden Fall aber betont sie, und das in einer alles Jüdische vernichtenden Zeit, in der darum mitunter sogar vom germanischen Christus geredet wurde, dass, mit Luthers berühmten Schrifttitel von 1523 gesprochen, „Jesus Christus ein geborener Jude sei“. Das Judesein Jesu hat eine grund-legende Bedeutung. Der christl. Glaube bleibt darum bleibend auf das Judentum bezogen. Das Kreuz wird zum musealen Relikt, die Kirche hat keine Zukunft, wenn das nicht mehr gesehen und geglaubt wird. Und schließlich (Kapitel 12) nimmt das Kreuz in der letzten Szene noch einmal eine leitmotivische Funktion ein. Gemeinsam mit zwei weiteren Flüchtlingen erreicht Hans Bodenheim die Grenze. Nur eine alte Haus-Brücke, an deren Dachpfeiler ein Kruzifix angebracht ist, trennt von der rettenden Schweiz. Die Grenzpatrouille verweigert die Einreise. So stehen sie, bevor sie am frühen Morgen überraschend doch noch einreisen dürfen, eine Nacht im Niemandsland dieser Brücke und stellt Bodenheim die keinesfalls nur vordergründig zu verstehende Frage: „Gehörte dieses Kreuz noch dem Dritten Reich an oder schon der anderen Welt, oder war`s die Grenzscheide zwischen beiden?“ (S.307) Das Kreuz markiert eine Trennungslinie. „Gefangen überm Abgrund“ (ebd.) lässt es hoffen. Doch der Mensch steht dem im Weg. Es ist eine Grenzerfahrung der besonderen Art! Die drei Flüchtenden können nicht vor und nicht zurück. Hinter ihnen stehen die Nazischergen mit entsicherten Gewehren im Anschlag und vor ihnen schweizerisches Militär, das sie „nicht unhöflich“ (ebd.) aber bestimmt zurückweist und damit das Kreuz auf der Brücke für sie zum Endpunkt macht. Im Angesicht des Kreuzes erleben sie so auf der einen Seite brutale Gewalt und auf der anderen Seite verweigerte Hilfe. Bisher bewusst ausgespart habe ich das zum Thema zentrale Kapitel 9: „Die Geschichte des Kaplans vom wiederhergestellten Kreuz“ (S.209ff). Wiedergegeben wird darin eine Begebenheit, die der kath. Pater Ottokar Felix kurz zuvor erlebt hat. Mit dem Roman verknüpft wird diese von Werfel in leicht veränderter Form auch gesondert publizierte, legendenhafte Erzählung dadurch, dass Pater Felix in der Gefängniszelle Hans Bodenheim als Hauptfigur des Romans und den anderen Mitgefangenen davon ausführlich berichtet. Was mit Blick auf das Kreuz als Leitmotiv des Romans und das Verhältnis von Judentum und Christentum manchmal nur anklingt, wird hier deutlich ausgesprochen, ist hier nicht nur Nebenaspekt sondern breit ausgeführte Hauptsache. Erzählt wird nämlich wie der kath. Kaplan, der sich zunächst schützend vor und schließlich solidarisch an die Seite der entrechteten jüd. Mitbürger seines Dorfes stellt, die gemeinsam mit ihrem Rabbiner von SA-Männern zusammengetrieben, auf einen Lastwagen gepfercht und zuletzt durch die Sümpfe zur ungarischen Grenze getrieben werden. Wie später Hans Bodenheim an der schweizerischen Grenze wird ihnen der Grenzübertritt (zunächst) verweigert. Sie bekommen von den Ungarn zwar Lebensmittel und Decken für die bevorstehende Nacht, müssen aber „im Freien (Was heißt im Freien?), im Nichts nächtigen“ (S.227f). Um die deportierten Juden und v.a. ihren Rabbiner Aladar Fürst noch weiter zu demütigen, werden sie daraufhin von den SA-Männern mit scharfem Kommando zusammengerufen. Und dann wird in einer dicht gestalteten und äußerst symbolträchtigen Szene folgendes erzählt:

 

„Die Braunhemden lachten aus vollem Halse. Jetzt kam das Hauptvergnügen. Schoch hielt ein großes hölzernes Hakenkreuz in der Hand. Es war dem Ansehn nach ein armseliges Grabkreuz, das er sich vom Mörbischer Kirchhof geholt und durch dünne angenagelte Querbrettchen in das siegreiche Symbol verwandelt hatte.“ (S.230)

 

Wenige, aber entscheidende Veränderungen reichen dem SA-Mann und unter Hohngelächter wird aus dem Kreuz ein Hakenkreuz, so dass man als Leser entsetzt stutzt und sich fragt, ob für manchen damals dieser Schritt wirklich nicht so weit entfernt lag. Was also steckt hinter dieser Szene? Will Werfel mit ihr andeuten, dass ein untergründiger Zusammenhang besteht und eine der Wurzeln des Antisemitismus im Christentum zu finden ist? Weil das Hakenkreuz als eine siegreiche Aneignung und Verwandlung, eine Pervertierung des christl. Kreuzes verstanden werden konnte? Dann wieder kann Werfel die Nazis in eine größtmögliche Opposition auch zum Christentum bringen, indem er sie mit den Worten charakterisiert: „Sie aber sind vielleicht die ersten wirklich gott- und moralfreien Menschen der Weltgeschichte. Sie sind so gottfrei, daß sie nicht einmal mehr Atheisten zu sein brauchen“ (S.284).

 

„Der SA-Mann „trat mit dem erhobenen Hakenkreuz dicht auf [den Rabbiner] Fürst zu und schrie ihn an: ´Saujud! … Du bist der Rabbiner… Was?` Keine Antwort. ´Als Rabbiner mit Peikes und Rokelores küßt du am Schabbes deine Bundeslade… Was?` Keine Antwort. ´Wenn du schon nicht redest, so wirst du das da küssen, Saujud, dreckiger, und der Pfaff soll dazu Kyrie eleison singen…`“ (ebd.)

Aufschlussreich ist ein Vergleich mit der Szene, die Hans Bodenheim in der Turnhalle (Kap. 11, S.255ff) einige Tage später erleben wird. Manches verläuft gleich, manches ist aber auch bewusst anders gestaltet. Wird dort von einem jüd. Synagogensänger verlangt, parallel zur Erniedrigung der zum Turnen gezwungenen Juden „seine heiligen Gebete nach der hebräischen Liturgie“ (S.257) zu singen, sollte hier der kath. Priester zur Verhöhnung des das Hakenkreuz küssenden Rabbiners „dazu Kyrie eleison singen“ (S.230). Wieso hier wie dort der „Ruf zum Himmel“ (S.257)? Will Werfel mit dieser Demütigung allein die Bösartigkeit der Nazis zeigen? Oder drückt sich darin zumindest auch eine (jüd. wie christl.) Anfrage an „die dunkle Aufmerksamkeit Gottes“ (ebd.) aus? Wie Gott dazu schweigen kann? Immerhin heißt es über den Synagogensänger: „Manchmal klang`s (…) wie ein stolzer fülliger Ruf zum Himmel“ (S.257).

„Aladar Fürst nahm das Hakenkreuz entgegen und trat einen Schritt zurück. Jetzt aber geschah etwas völlig Unerwartetes. (…) Fürst handelte mit halbgeschlossenen Augen, wie im Traum und nicht einmal mit schnellen Bewegungen. Er knickte eins nach dem andern die Brettchen durch, die aus dem Kreuz ein Hakenkreuz machten. Totenstille. Keiner hinderte ihn.“ (ebd.)

 

Bisher hatte der Rabbiner geschwiegen. Jetzt zeigt sich, dass die Tat die einzig passende Antwort ist. Er weigert sich nämlich nicht etwa nur, das Hakenkreuz zu küssen, sondern gerade er ist es, der das geschändete Kreuz wieder herstellt. „Nicht einmal mit schnellen Bewegungen“ (ebd.), sondern eher nachdenklich und sehr bewusst also. Er setzt damit seine Überzeugung um, die er zuvor dem Kaplan in einem Gespräch mitgeteilt hatte: „Wir gehören zusammen, Hochwürden, aber wir sind keine Einheit. Im Römerbrief steht geschrieben: Die Gemeinde des Christus fußt auf Israel. Ich bin überzeugt davon, daß, solange die Kirche besteht, Israel bestehn wird, doch auch, daß die Kirche fallen muß, wenn Israel fällt…“ (S.212). Unter Verweis auf Paulus muss der Jude den Christen daran erinnern, dass die Kirche trotz aller Unterschiede schon aufgrund ihres eigenen Selbstverständnisses bleibend an das Judentum verwiesen ist. Im Blick hat er dabei wohl die frei, aber treffend wiedergegebene Stelle Röm 11, 18b: „… dass nicht du die Wurzel trägst, sondern die Wurzel dich trägt“. Ein bibl. Vers und eine Wahrheit, die erst (durch die gesamte Christentumsgeschichte für viele viel zu) spät von der christl. Theologie erkannt wurde. Als Motto wird sie über 40 Jahre später über dem rhein. Synodalbeschluss zur Erneuerung des Verhältnisses von Christen und Juden stehen.

 

Der Kaplan kommentiert später das ganze Geschehen mit den Worten: „Ein jüdischer Rabbi hat das getan, was eigentlich ich, der Priester, hätte tun sollen… Er stellte das Kreuz wieder her…“ (ebd.)

 

Damit spricht er die entscheidende Einsicht aus. Aber er tut es erst im Nachhinein. In der Situation selbst beobachtet und schweigt er nur. Dabei wird sein sonstiges Verhalten im Roman durchaus positiv dargestellt. Er sieht, dass um des Menschen willen gehandelt werden muss. Er gibt, so gut er kann, dem Rabbiner Rat, begleitet die kleine jüdische Gruppe sogar auf ihrem Abtransport, steht ihr zur Seite. Das ist viel. Und ist doch zu wenig. Er will helfen. Aber es bleibt „auch eine jahrhunderttiefe Fremdheit, die sich nicht leicht überbrücken läßt“ (S.211). Was er erlebt, fordert zwar sein Gewissen heraus, nicht aber seinen Glauben. „Es gibt unter Kulturmenschen [!] keine rechtmäßige Verordnung, die diesen Schutz-suchenden die Aufnahme verweigern kann“ (S.225), hält er auf eine etwas gewundene Weise dem Verantwortlichen, einem einfachen Mann, vor. Das Geschehen entsetzt den Kaplan und es erreicht seine Moral. Aber sein eigenes Denken und Reden von Gott bleiben davon unberührt. Es ist ebenso eindeutig wie auffällig, dass ausschließlich der jüd. Rabbiner, nicht aber der christl. Kaplan immer wieder theologisch argumentiert. Ist der Kaplan darin nicht exemplarisch? Kann, ja muss seine Person nicht als Anfrage Werfels an die Kirche insgesamt gelesen werden? Spiegelt er in ihm nicht, auf eine noch überaus freundliche Weise, eine jahrhunderttiefe Einstellung und fragt: Wie ist das möglich? Warum bleibt christl. Theologie davon unberührt, schweigt sie, sieht sie keine Notwendigkeit, sich zu ändern? Weil der Rabbiner „in den Fächern der katholischen Theologie unheimlich gut beschlagen war“ (S.212), macht das „auf ihn einen bewegenden Eindruck“ (ebd.). Aber es heißt auch, dass der Kaplan „erkannte, daß weit über dieses immerhin noch eitle [!] Wissen hinaus“, der Rabbiner die „uralt-unsinnige (…) Christusscheu [!] seiner Väter überwunden hatte“ (ebd.). Eindringlich versucht der Rabbiner, ihm den schicksalhaften Zusammenhang von Judentum und Christentum aufzuzeigen. Aber seine Worte erreichen den Kaplan nicht, sie laufen ins Leere. Zunächst bleibt er ganz in seiner traditionellen Sicht gefangen, erst im Rückblick fängt er verwundert an zu verstehen.

Manche Bücher klappe ich, auch wenn ich sie zu Ende gelesen habe, nicht einfach zu und lege sie zur Seite. Ihr Text ist meist mit zahlreichen Unterstreichungen und Anmerkungen versehen, und sie bekommen einen bevorzugten Platz in meinem Bücherregal. Dieser Roman von Franz Werfel gehört ohne Zweifel dazu. Warum? Die Atmosphäre 1938 vor dem „Anschluss“ Österreichs, die dumpfe Stimmung und die Starre des Abwartens, werden von Werfel ebenso eindringlich beschrieben wie einzelne Greuel an den Juden in den ersten Tagen danach, die vielfachen Gewalttaten, Übergriffe, Demütigungen, aber auch das Schweigen und das unbeteiligte Zu- bzw. Wegschauen. Im Erzählen einzelner Szenen wird das Geschehen konkret und damit überhaupt erst fassbar. Schon das ist eine Stärke des Buches, das als Gegenwartsroman fast zeitgleich zu den Ereignissen geschrieben wurde. Noch erstaunlicher aber ist, dass Werfel bereits 1938 in der Lage ist, nicht nur als Zeitzeuge feinfühlig zu beobachten und zu dokumentieren, sondern darüber hinaus auch grundsätzliche Zusammenhänge in den Blick zu nehmen und zu formulieren. In einer symbolhaften Geste wird die christl. Kirche durch den jüd. Rabbiner Fürst an die (Be-)Deutung  des Kreuzes erinnert. Mit wenigen Worten ist ausgerechnet er es, der der blinden und deshalb schweigenden Kirche die Augen dafür öffnen muss, dass Judentum und Christentum, dass Israel und Kirche verbunden sind. Diese Einsicht aber braucht ganz offensichtlich Zeit. Schon im Rahmen der Geschichte des Romans wird sie nicht wirklich vollzogen. Bestenfalls ein Anfang, ein erster kleiner Schritt erfolgt. Denn nicht als es darauf ankommt, sondern erst im Rückblick, erst im Nacherzählen dessen, was nicht hätte passieren dürfen, erfolgt durch den kath. Kaplan das Schuldeingeständnis und die Erkenntnis, dass eigentlich er hätte handeln müssen. Retroperspektiv macht die Tat des Rabbiners Fürst auf ebenso beschämende wie hintergründige Weise eine Fehlstelle sichtbar. Und es stellt sich die Frage, ob hier nicht, die Erzählebene für einen Moment verlassend, der Leser von Werfel in die Geschichte (und das in doppelter Weise: In die erzählte Geschichte von Bodenheim sowie in die geschehene Geschichte des Nationalsozialismus) einbezogen und zur Stellungnahme aufgefordert wird. Damit er das Geschehen nicht einfach nur zur Kenntnis nimmt, sondern mit der Verwunderung des Kaplan Felix zugleich die Aufforderung hört, sich damit nicht abzufinden, sich selbst anders zu verhalten, zu protestieren und sich in Zukunft dagegen aufzulehnen.

 



[1] F. Werfel, Cella oder Die Überwinder. Versuch eines Romans, Berlin und Weimar 1970 (die Seitenzahlen im Text beziehen sich auf diese Ausgabe)

Kommentare

Beliebte Posts