Es ist der 1. Oktober. Der erste Monat meiner Studienzeit liegt damit bereits hinter mir. Ich habe das Gefühl, dass selten die Zeit so schnell an mir vorbeigerast ist. Jeder Tag ist geprägt von zahlreichen Eindrücken und Erfahrungen, gefüllt mit vielen Gesprächen und Begegnungen, bestimmt von den unterschiedlichsten Gefühlen. Dieser Blog kostet mich einerseits viel Zeit und ist andererseits immer wieder auch Gelegenheit, zumindest Einiges zu reflektieren, festzuhalten und mitzuteilen - nicht zuletzt auch als kleiner Dank an die Gemeinde und die Kollegen, die mich diese drei Monate freigestellt haben. Da das speichern durch die Datenmenge allerdings immer länger dauert, beginnt mit dem neuen Monat auch ein neuer Post.
Tag 21 - 30. Sept (Schabbat)
Ein Tag der Ruhe, der fast hörbaren Stille in dieser ansonsten so lauten und hektischen Stadt, sich darin einüben, einmal nichts zu tun (und meine niemand, das wäre einfach!), eine Auszeit (in des Wortes wahrer Bedeutung) nehmen. Schabbat, es ist der siebte Tag. Wir haben meist nur den allzu kurzen, den amputierten Satz "Du sollst den Feiertag heiligen" im Ohr. Man lese einmal nach! In der Schrift heißt es wirklich: "Nur sechs Tage sollst du arbeiten und alles tun, was du zu erledigen hast. Der siebente Tag ist ein Ruhetag, er gehört dem Ewigen, deiner Gottheit. Da soll niemand der Arbeit nachgehen, du nicht, dein Sohn und deine Tochter nicht, dein Sklave nicht, dein Vieh nicht, und auch nicht der Ausländer in deiner Stadt. " (Ex 20,9f). Das ist nicht nur etwas länger, das ist etwas ganz anderes.
שבת שלום
Schabbat Schalom
Paul, mir ist er unvergesslich. Ich habe ihn in meiner ersten Gemeinde kennengelernt. Viele Jahre hatte er in verantwortungsvoller Position im Schicht- und Wechseldienst gearbeitet, ohne dauerhaften Rhythmus. Am Ende ist seine Ehe daran kaputtgegangen. Ernst und mit tieftraurigen Augen hatte er mich angeschaut, damals, bei einem Geburtstagbesuch, und mir gesagt: "Ich hatte ja nie wirklich Zeit. Ich wurde ja immer
in der Firma gebraucht. Je nachdem wie die Schicht lag, sieben Tage die Woche.
Und ich will mich gar nicht beschweren! Habe dabei ja gutes Geld gemacht.“ Der Schabbat ist wichtig! An Paul und
seiner Lebensgeschichte ist mir das zum allerersten Mal wirklich bewusst geworden. Der Schabbat ist lebenswichtig. Auch wenn wir es nicht
sofort sehen oder verstehen: Er ist unverzichtbar. „Du merkst es nicht gleich“,
hatte Paul gesagt. „Aber auf die Dauer macht dich das kaputt.“ Der fehlende
Rhythmus, kein fester Ruhetag, ohne gleichbleibenden Wechsel. Denn: „Ohne
Sonntag gibt`s irgendwann nur noch Werktage“. Die Menschen der Bibel haben
darum gewusst. Immer wieder ist davon die Rede. Nicht nur ein Mal, sondern in den unterschiedlichsten Zusammenhängen! Kaum
ein anderes Gebot bekommt solche Aufmerksamkeit wie gerade dieses. „So entstanden Himmel
und Erde mit allem, was lebt. Und Gott vollendete am siebenten Tag seine Werke,
die er machte, und ruhte am siebenten Tag von allen seinen Werken. Und Gott
segnete den siebenten Tag und heiligte ihn, weil er an ihm ruhte von allen
Werken, die Gott geschaffen hatte“ heißt es in der Schöpfungsgeschichte (Gen 2, 1ff). Gott selbst ruht sich hier aus. Gott, der Schöpfer,
von seiner Arbeit erschöpft, bedarf hier selbst der Ruhe und der Erholung.
Erstaunlich, oder? Aber genau so wird es erzählt. Nach sechs Tagen des
Arbeitens und des Schaffens hält Gott inne, atmet auf und kommt zur Ruhe. Eine
Vorstellung, die uns vielleicht lächeln lässt. Kann man so von Gott reden? Ist
das angemessen? Dass Gott sich ausruht und nichts tut. Aber Vorsicht! Die
Vorstellung, dass Gott die Hände in den Schoß legt, hat es in sich. Sie ist
alles andere als naiv. Hier wird ganz bewusst so und nicht anders erzählt. Sechs
Tage sollst du arbeiten, am siebten aber darfst du ruhen. Nicht streng, mit erhobenem Zeigefinger wird das
formuliert, sondern freundlich und wohlwollend. Gott selbst macht es uns
vor und gibt uns ein Beispiel. Der Shabbat, der siebte (von Arbeit
freie) Tag der Woche – sein Geschenk an die Welt. Gott hält diesen Ruhetag ganz
offensichtlich für so wichtig, dass er ihn selbst (!) einhält. Und noch eins: „Du sollst den
Feiertag heiligen“ heißt es in unserer durch Luther vermittelten Tradition.
Von den Schwachen ist damit auf einmal nicht mehr die Rede: „Der Knecht, die
Magd, der Fremdling in deiner Stadt“. All die also, die nichts haben, sich
gerade mal so über Wasser halten, von der Hand in den Mund leben, sie alle geraten
aus dem Blickwinkel. Du sollst den Feiertag heiligen! Wirklich nur Du? Reicht
das? Genügt das schon? Was ist mit den anderen? Die mit leeren Händen dastehen?
In der Bibel jedenfalls werden sie (ich denke) sehr bewusst genannt. Gerade damit die, die sonst zu kurz kommen, nicht übersehen oder vergessen werden!
Gerade sie haben es doch am nötigsten! Wer hier nur sich selbst sieht, sieht zu
wenig! Dieser Tag hat auch eine soziale Seite. „Der Schabbat, der freie Tag,
ist um des Menschen willen gemacht“ heißt es bei Jesus (Mk 2, 27). Vielleicht
übersetzt man besser, genauer, umfassender: „Ist um aller Menschen willen gemacht“. Es ist ein Tag der Freiheit, der
Gleichheit, der Brüderlichkeit! Ausdrücklich und ausnahmslos alle sollen
ausruhen und aufatmen, ihre Arbeit unterbrechen können. Doch: Nichtstun muss
man sich auch leisten können. Es reicht nicht, dazu aufzufordern. Es muss auch
möglich, auch für sie machbar sein. Das ist der Grund, weshalb am Ende des
Gottesdienstes für diakonische Zwecke, für soziale Projekte gesammelt wird. Kein
Gottesdienst ohne Kollekte. Und das aus gutem Grund. Gerade an diesem Tag
sollen wir die nicht vergessen, die auf Unterstützung angewiesen sind. Paulus
spricht im NT nur sehr selten vom Siebten Tag als dem freien Tag der Ruhe. Ist
es wirklich Zufall, dass er, wo er`s tut, die Gemeinde ermahnt, „jeder von
euch lege an diesem Tag etwas für die Hilfsbedürftigen zurück und sammle,
soviel ihm möglich ist“ (1 Kor 16, 2a). Auch so jedenfalls wird er zu einem
Tag, „der um des Menschen willen gemacht ist“. - In diesem Sinne: Schabbat schalom!
Heute Abend war der Rat der EKD im Studienzentrum. Eine interessante Begegnung mit zahlreichen Gesprächen und einem üppigen Buffet. Morgen dann ein Gottesdienst mit Annette Kurschus als Predigerin - fast wie in alten Tagen...
Auf dem Heimweg dann die Begegnung mit zahlreichen Demonstranten fast unmittelbar vor dem Dienstsitz des Premierministers. Ich habe nicht alles verstanden. Aber soviel wurde immerhin deutlich, dass man Spottgesänge auf ´Bibi`, Benjamin Netanjahu, anstimmte, auch fiel immer wieder das Stichwort ´דֵמוֹקרָטִיָה` (Demokratie). Erneut demonstrierten Jerusalemer gegen die sog. Justizreform. Sehr bewegend, dass am Ende die ´Hatikva`, das große Lied der Sehnucht, die israelische Nationalhymne angestimmt wurde: „Solange noch im Herzen eine jüdische Seele wohnt und
nach Osten hin, vorwärts, ein Auge nach Zion blickt, so lange ist unsere
Hoffnung nicht verloren, die Hoffnung, zweitausend Jahre alt, zu sein ein
freies Volk, in unserem Land, im Lande Zion und in Jerusalem“ (vgl. Ez 37, 11).
Tag 20 - 29. Sept (Blockseminar / Schabbat)
Das Blockseminar haben wir heute Vormittag mit einer Abschlussrunde beendet und sind dann in den (durchaus noch ereignisreichen!) Schabbat entlassen worden. Die Studenten erhalten eine Teilnahmebescheinigung, die einem Schein für ein zweistündiges, wöchentliches Seminar in einem Semester vergleichbar ist. Damit weiß ich jetzt auch, warum ich mich am Ende der Woche so müde fühle...
Wer
mag, Geduld hat und sich interressiert, kann im Folgenden lesen, worum
es im Blockseminar ging. Grundlage war neben den biblischen Texten v.a.
eine exegetische Dissertation von Volker Haarmann. Hier also eine kurze Zusammenfassung:
Die Völker inmitten des Volkes Israel
Eine knappe biblische Übersicht
In der Urgeschichte ist von Israel noch keine Rede, erst mit der Berufung von Abr. „beginnt die Geschichte Israels gleichsam aus der allgemeinen Menschheitsgeschichte herauszuwachsen“[1]. Kann in Gen 1-11 die Unterscheidung zwischen den Völkern und Israel keine Rolle spielen, bestimmt sie ab Gen 12 durchgehend die alttestamentliche Überlieferung und ihre Weltsicht. Seitdem wird die alttestamentliche Überlieferung durch einen doppelten Grundgedanken geprägt: Einerseits durch ´Jhwh als Gott Israels` und andererseits durch ´Israel als Volk Jhwhs`. Diese wechselseitige Bezogenheit gehört zum Grundbestand und ist ein festes Theologumenon. „Ist Jahwe der erste Gegenstand des alttestamentlichen Zeugnisses, so ist Israel der zweite, keiner von beiden ohne den anderen.“[2]
Wird also der Universalismus der Urgeschichte durch den Partikularismus der Geschichte Israels abgelöst? Nein, eine solche Sicht wäre kurzschlüssig und falsch. Zwar kann „die Formel ´Jahwe der Gott Israels, Israel das Volk Gottes` als die ´Mitte des Alten Testaments` bezeichnet“[3] werden, weil mit ihrer Hilfe weite Teile der alttestamentlichen Überlieferung und damit die entscheidenden Stationen im Leben und im Glauben Israels bedacht und beschrieben werden können. Gleichzeitig aber kommen von Anfang nicht nur politisch andere Völker ins Blickfeld, sondern ist durchaus auch religiös von einer unterschiedlichen, ja gegensätzlichen Bezogenheit dieser Völker zum Gott Israels die Rede. So kann positiv davon gesprochen werden, dass sie Anteil an dem besonderen Gottesverhältnis Israels bekommen, oder, dass der Gott Israels in einem kritischen, manchmal aggressiven Verhältnis zu ihnen steht. Dieses in sich widersprüch-liche Bild erklärt sich, ähnlich dem widersprüchlichen Bild der politischen Bewertung, wohl nicht zuletzt durch ständig wechselnde Situationen und politische Konstellationen, denen Israel in seiner Geschichte unterworfen war. In den gegensätzlichen Äußerungen und Traditionen spiegeln sich auch gegensätzliche Erfahrungen und Erinnerungen an verschiedene Phasen der Geschichte Israels.
Ohne alle alttestamentlichen Überlieferungen hier einbeziehen zu können, seien zumindest einige wichtige Texte genannt:
In diesem Zusammenhang als Erstes zu nennen, ist Deuterojesaja, der die Einzigartigkeit Gottes betont, unterstreicht: „außer mir ist keine Gottheit“ (Jes 44, 6 – vgl. auch 43, 10; 45, 14.21f u.ö.) und der andererseits das Heil dieses Gottes über Israel hinaus auch auf die übrigen Völker bezieht. Geht man davon aus, dass diese Texte (wie die Erwähnung der Verwüstung Israels Jes 44, 26.28 u.ö. und des Perserkönigs Kyrus Jes 44,28; 45, 1 sowie die Ankündigung der Erobe-rung Babylons Jes 46f* zeigen) sicher nach 550 v.Chr. anzusetzen sind, suchen sie damit, in der Zeit nach dem Zusam-menbruch des babylonischen Exils, nach einem neuen Anfang. Im bewussten Gegensatz zu der selbst empfundenen Ohn-macht versteht Dtjes Jhwh als mächtigen Schöpfer (Jes 40, 26.28; 45, 18) und Regenten (Jes 40, 12ff) der Welt. Aus dieser Überzeugung heraus kommt die Erkenntnis, die Erfolge des Perserkönigs auf Gott zurückzuführen, der Kyrus („Hirte Jhwhs“ Jes 44, 28) als Werkzeug zur Ausführung seiner Pläne (Jes 46, 11) nutzt. Eine Hoffnung, mit der Dtjes bei seinen Hörern auf Unverständnis und taube Ohren gestoßen ist (Jes 42, 18ff; 43, 8), die aber folgerichtig zur Ausführung eines konsequenten Monotheismus führten. In zahlreichen Götzenpolemiken (Jes 40, 19; 41, 6f; 44, 9ff u.ö.) werden die fremden Götter mit ihren von Menschen hergestellten Figuren gleichgesetzt und als wirkungslos (Jes 41, 28), als „Nichtse“ (Jes 41, 24) entlarvt. Es wird dazu kommen, dass alle Welt den einzigen Gott erkennt (Jes 45, 3.5), eingesteht: „außer Jhwh ist kein Gott“ (Jes 45, 6). Diese Vorstellung führt zu einer Entschränkung. Jhwh ist nicht mehr exklusiv der Gott Israels, sondern universal werden die Völker einbezogen. Israel nimmt religiös eine Mittlerfunktion ein und wird zum Zeugen, zum „Licht“ (Jes 49, 6) der fremden Völkern. Die Völker werden nach Jerusalem ziehen, vor Jhwh niederfallen und ihm huldigen (Jes 45, 4). Von Gott werden sie aufgerufen, sich ihm zuzuwenden und sich retten zu lassen (Jes 45, 22). Folgerichtig führte die eigene Überzeugung von Jhwhs souveräner Machtfülle so zu der weitergehenden Annahme, dass ihn dann auch die Angehörigen der fremden Völker erkennen und anbeten werden. Erstaunlich unverbunden stehen allerdings manchmal universalistisch formulierte Aussagen (Jes 45, 20ff; 49, 6) neben anderen, stark nationalistisch und militärisch geprägten („in Fesseln ziehen sie heran“ Jes 45, 16; „wie von Most werden sie von ihrem eigenen Blut betrunken“ Jes 49, 26).
Eine weitere wichtige, positive Vorstellung von der Einbeziehung der Völker in das Heil des Gottesvolkes, die Gedanken und Vorstellungen Dtjes aufnimmt, ist das Motiv von der Völkerwallfahrt zum Zion. Im Hintergrund steht die Tradition vom feindlichen Ansturm der Völker. Das kriegerische Anrennen gegen den Zion wird umgekehrt in ein friedliches Pilgern zum Zion. Beeinflusst wurde diese Vorstellung aber auch durch die altorientalische Königstradition, der gemäß die Völker eigentlich kommen, um dem Herrscher zu huldigen und für die heilvolle Ordnung zu danken. An die Stelle der Völkertreppe in Persepolis als Ort der größten politischen Macht etwa tritt hier, durchaus mit kritischer Konnotation, der Zion, wo Gottes כָּבוֹד (kabod / Herrlichkeit) Wohnung genommen hat. In Einzelheiten können die Akzentuierungen der unterschiedlichen Texte durchaus voneinander abweichen. Wird die Vision in Jes 60 und Hag 2, 1-9 durch den imperialistischen Gedanken bestimmt, dass die Völker bei ihrer Wallfahrt Reichtümer, also als Vasallen Schätze zum Zion bringen, fehlt in Jes 2, 1-5 / Mi 4, 1-5 und Sach 8, 20-22 eine entsprechende Vorstellung. Dienen die von den Völkern gebrachten Schätze Hag 2 dazu, den Tempel „mit Glanz zu erfüllen“, kommen die Völker Sach 8 „um das Angesicht Jhwhs zu er-weichen“, um also den wahren Gott zu dienen (vg. auch Ps 102, 22f). Dass bei Jesaja das Motiv in Jes 2 und Jes 60 begegnet und somit eine Klammer um das Jesajabuch als Ganzes bildet, unterstreicht nochmals seine besondere Bedeutung. „Israel wird (…) zum Mittler der heilsamen Nähe des Schöpfers für die Nichtisraeliten.“[4] Erwartet wird nicht, dass die Völker / Nationen (גּוֹיִם / עַמִּים) dabei zum Glauben Israels „im Sinne einer Inklusion in Israel“[5] konvertieren. Vielmehr: Es geht „um die JHWH-Erkenntnis der Völker (…) die Hinwendung zum Gott Israels als JHWH-Verehrer der Völker“ (ebd.).
Schließlich sei noch auf verschiedene Texte hingewiesen, die ausführlich davon erzählen, dass einzelne Angehörige fremder Völker Israels Gott anerkennen und zu Jhwh-Verehrern[6] werden.
So wird Ex 18 berichtet, dass Jitro, der Schwiegervater des Mose und Priester (!)[7] Midians (V.1), nachdem er erkannt hat, dass Jhwh „stärker ist als alle anderen Gottheiten“, Gott „Brand- und Mahlopfer darbringt“ (V. 11f). Wie konnte es dazu kommen? Vorausgegangen ist ein doppeltes Hören Jitros vom Herausführens Israels aus Ägypten durch Jhwh, einmal als allgemeine Kunde aus der Ferne, aus einer nicht weiter benannten Quelle, und ein weiteres Mal durch Mose selbst und sein Zeugnis, das dann bei Jitro zur Freude über den Exodus (V.9) und zur Einsicht über die Größe Jhwhs (V.11), zur Darbringung der Opfer und damit zu Jitros Hinwendung zu Jhwh führt. Gleichwohl zieht er nicht mit dem Volk Israels mit, sondern „wandert in sein Land zurück“ (V.27), sodass sinnvollerweise nicht von einem Übertritt und damit einer Zugehörigkeit zum Volk Israel gesprochen werden kann. Jhwh aber und dessen Verehrung schließt Jitro sich an.
In einem aus heutiger Sicht theologisch eher problematischem Kontext, der die Landnahme als komplette Auslöschung der Feinde erzählt, berichtet Jos 2 von der Kanaanäerin Rahab. Sie hilft den von Josua ausgeschickten Spionen, die das Land und Jericho erkunden sollen, und versteckt sie in höchster Gefahr. Bevor die Spione sie verlassen, legt sie ein Bekenntnis zu Jhwh ab, „er ist Gott oben im Himmel und unten auf der Erde“ (V.11 – vgl. Dtn. 4, 39) und erzählt erstaunlich kenntnisreich von den Ereignissen am Schilfmeer und dem Sieg über die Amoriterkönige Sihon und Og (V.10). Für ihre Hilfe verlangt und bekommt sie schließlich das Versprechen, dass sie und ihre Familie nach der Einnahme verschont werden. Das Einlösen dieses Versprechens wird dann Jos 6, 27 erwähnt und ebenfalls berichtet, dass „sie unter den Isra-eliten“ wohnen bleibt. Wird sie also mit ihrem Bekenntnis, anders als Jitro, gänzlich in das Volk Israel aufgenommen? Manche Formulierung im Text spricht eher dagegen. So entspricht ihr Bekenntnis Jos 2, 11 einerseits dem Mosebekennt-nis Dtn 4, 39 und wandelt es doch in bezeichnenderweise ab: Die monotheistische Klausel „es ist keiner außer ihm“ entfällt und v.a. sagt sie betont „euer Gott“. Auch die Formulierung „inmitten von / unter den Israeliten wohnt sie“ (Jos 6, 27) erinnert eher an ein Wohnen unter Fremden (vgl. Ri 3, 5 – dort wird mit dem gleichen Verb das Wohnen der Israeliten unter fremden Völker erzählt). Somit bliebe sie Nichtisraelitin, die aber mit Israel denselben Gott verehrt und Jhwh anerkennt. Außerdem ließe sich eine (zugegeben) weite Brücke zu Gen 12, 3 spannen. Ebenso wie sich jetzt die dort erstmals gegebene Landverheißung zu erfüllen beginnt, kann sich in Rahab (durch ihr entsprechendes Verhalten) das Versprechen des die Völker einbeziehenden Segens erfüllen.
In einer weiteren Erzählung wird 2 Kön 5 die Hinwendung zu Jhwh und die Erkenntnis seiner Einzigkeit durch den aramäischen Heerführer Naamann erzählt. Steht bereits am Anfang der überraschende Hinweise des Erzählers, dass „Jhwh [!] durch ihn [Naamann] Aram den Sieg gegeben habe“ (V.1), was zu dieser Zeit der Aramäer Naamann, der in Damaskus (bisher) den aramäischen Gott Rimmon verehrte (vgl. V. 18), entschieden anders sehen wird, steht am Ende und als Zielpunkt sein Bekenntnis: „Ja, nun habe ich erkannt, dass es keine Gottheit auf der ganzen Erde außer in Israel gibt“ (V.15). Zuvor aber stehet ein verschlungener Weg voller Gegensätze und Missverständnisse. Naamann, der große Heerführer, ist an Aussatz erkrankt. Ausgerechnet ein im Krieg verschlepptes Mädchen weiß Hilfe und redet von dem Propheten in Samaria, der „ihn von seinem Aussatz befreien würde“ (V.3). Weder der König von Aram noch der König von Israel verstehen das wirklich (V. 6b und V.7) sodass Elischa korrigierend eingreifen muss. Aber auch Naamanns Wunsch nach Magie (V.11b.13) erweist sich als Missverständnis (V.11a.12b). Nach der Heilung erfolgt dann das im Munde eines Nichtisraeliten erstaunliche Bekenntnis Naamanns (V.15) sowohl der Exklusivität Jhwhs („keine Gottheit außer“) wie auch der örtlichen Bindung Jhwhs („außer in Israel“). Auch wenn Jhwh an das Land Israel gebunden ist, ist er also dennoch der einzige Gott auf Erden. Von einer Integration Naamanns in das Volk Israel wird nichts berichtet. Allerdings kündigt Naamann bei seinem Abschied von Elischa an, zukünftig allein Jhwh zu opfern (V.17b). Ähnlich der Jitroerzählung wird die Jhwh-Erkenntnis durch eine mehrfache Vermittlung von Israelien möglich. War es bei Jitro zunächst eine allgemeine Kunde und schließlich Mose persönlich, ist es bei Naamann zunächst das Mädchen und dann der Prophet Elischa.
Im Jonabuch spielen die Nichtisraeliten und ihr Verhalten schließlich insgesamt eine wichtige (Neben)rolle[8]. Zunächst sind es die nichtisraelitischen Seeleute, die nach Jonas Bekenntnis zu „Jhwh, die Gottheit des Himmels“ (Jon 1, 9) zu Jhwh beten (V.14) und im unmittelbaren Anschluss an die Rettung aus dem Sturm Jhwh Dankopfer bringen und, doch wohl als Ausdruck dauerhafter Bindung an Jhwh, Gelübde ablegen (V.15b). Im zweiten Teil des Buches sind es dann die als notorisch böse geltenden ninivitschen Nichtisraeliten, die aufgrund der Ankündigung des Untergangs Ninives (Jon 3, 4b) umfassend Buße tun. Besonders der namenlose König von Ninives (als bewusstes Gegenbeispiel des hörunwilligen judäischen Königs Jojakim? – vgl. die teilweise wörtlichen Anklänge an Jer 36) verhält sich in seiner Demut sowie dem Aufruf zum Fasten und zur Umkehr vorbildlich. Es erfolgt zwar keine Hinwendung der Niniviten zu Jhwh, wohl aber kehren sie um und „die Gottheit bereute das Unheil, das sie angekündigt hatte ihnen anzutun, und sie tat es nicht“ (Jon 3, 10). So gibt es bei mancher Ähnlichkeit zwischen den Seeleuten und den Niniviten als Nichtisraeliten in ihrer Darstellung doch auch bezeichnende Unterschiede. Die Niniviten, deren Bosheit bis vor Jhwhs Angesicht hinaufgedrungen ist (Jon 1, 2b), müssen moralisch umkehren. Eine Jhwh-Kenntnis ist dafür nicht notwendig. Jon 3, 3b.5.8-10 ist betont nur allgemein von der Gottheit (אֱלֹהִים) die Rede. Im Gegensatz dazu wird im Kontext der Seeleute nach Jonas Bekenntnis nur noch Jhwh genannt (Jon 1, 10.14-16). Ein verrückter Rollentausch wird sichtbar: Die nichtisraelitischen Seeleute handeln so, wie es eigentlich von dem Israeliten Jona zu erwarten wäre. Sie rufen, nachdem sie von Jhwh gehört haben, ihn in der Not, unmittelbar im Sturm, an (Jon 1, 14), Jona erst später, gerettet im Buch des Fisches (Jon 2, 2); Jona sagt, er fürchtet Jhwh (Jon 1, 9), und flieht, sie erfasst eine tiefe Furcht und sie opfern (Jon 1, 16). Auch Nichtisraeliten sind, gerade das wird in der Reaktion der Seeleute sichtbar, für die richtige Erkenntnis Jhwhs offen oder sind, so wie die Einwohner Ninives, zumindest fähig, von ihrem bösen Weg abzukehren.
Die Gemeinsamkeiten aller vier Betrachtungen von Jitro, Rahab, Naamann und den Seeleuten werden in den bezeichnen-den Unterschieden zur nächsten Geschichte noch einmal besonders sichtbar. Zwar geht es auch in der Erzählung von Rut um eine Fremde, die in einem entscheidenden Moment erklärt: „Dein Gott ist mein Gott“ (Rut 1, 16). Doch die Akzente sind hier anders gesetzt. Ausgangspunkt ist die persönliche Bindung der nichtisraelitischen Schwiegertochter Rut an ihre israelitische Schwiegermutter Noomi. Sie allein setzt alles weitere in Gang. Von einer entscheidenden Erkenntnis Jhwhs wird nichts erzählt. Die Erklärung Ruts, gleichzeitig überhaupt ihre ersten eigenen Worte, die sie allein spricht (V.10 und V.14 reagiert sie gemeinsam mit ihrer Schwägerin Orpa), drücken die Bereitschaft aus, sich zukünftig ganz an dem Leben und Verhalten Noomis zu orientieren, sich ihr vollständig anzupassen und sich entsprechend zu verhalten. Es geht nicht um eine Integration in ihre Religion sondern in ihr Leben (V.16: „Wo du hingehst… wo du übernachtest… [an erster Stelle] dein Volk… [an zweiter Stelle und nur allgemein!] dein Gott… wo du stirbst…“) und erst insofern und allein deshalb auch um die Anerkennung Jhwhs, die sie allerdings umgehend mit ihrem Schwur vor Jhwh (V.17b) be-zeugt. Aber nicht allein durch den anders motivierten Eintritt einer Nichtisraeliten in die Gottesbeziehung zu Jhwh unterscheidet sich Ruts Verhalten deutlich von dem in den vier Geschichten zuvor. Denn: Bei ihr fehlt einerseits zwar ein ausdrückliches Jhwh-Bekenntnis. Auch geht ihrem neuen Gottesverhältnis kein Erlebnis (vgl. Jonas Seeleute und Naamann) und keine (ausdrückliche!) Kenntnis (vgl. Jitro und Rahab) des Handelns Jhwhs voraus. Dafür aber vollzieht nur Rut einen Identitätswechsel. Mit ihrer Hinwendung zu Jhwh tritt sie nicht nur in ein neues Gottesverhältnis, sondern sie wird auch zu einem Teil des Gottesvolkes. Allein sie verlässt ihr eigenes Volk und wird in das Volk Israel integriert.
Fazit: Alle vier Geschichten thematisieren ausführlich das Gottesverhältnis von Nichtisraeliten zum Gott Israels und zeigen, dass unter bestimmten Voraussetzungen eine Hinwendung zu Jhwh und seine Verehrung auch für Menschen aus den fremden Völkern durchaus möglich ist.
[1] R. Rendtorff, Theologie Bd. 2, S.235
[2] R. Smend, Die Mitte des Alten Testaments, in: Ders., Die Mitte des Alten Testaments. Gesammelte Studien Band 1, München 1986, S.40-84, hier S.75 – so aber auch schon J. Wellhausen, Israelitische und jüdische Geschichte, Berlin 1958 (9.Auflage), S.23: „Jahve der Gott Israels, Israel das Volk Jahves: das ist der Anfang und das bleibende Prinzip der folgenden politisch-religiösen Geschichte.“
[3] Ebd. S.82 – R. Smend nimmt damit Formulierungen von B. Duhm und J. Wellhausen auf
[4] Fr. Crüsemann, ´Ihnen gehören … die Bundesschlüsse` (Röm 9, 4). Die alttestamentliche Bundestheologie und der christlich-jüdische Dialog, in: KuI 9 (1914), S.21-48, , hier S.34
[5] V: Haarmann, JHWH-Verehrer der Völker. Die Hinwendung von Nichtisraeliten zum Gott Israels in alttestamentlichen Überlieferungen (AThANT 91), Zürich 2008, S.254
[6] Vgl. dazu die Darstellung: V: Haarmann, JHWH-Verehrer der Völker. Die Hinwendung von Nichtisraeliten zum Gott Israels in alttestamentlichen Überlieferungen (AThANT 91), Zürich 2008, zu Jitro S.59ff, Rahab S.100ff, Naamann S.132ff, Seeleute des Jona S.170ff und Rut S.255ff.
[7] Dass ausgerechnet ein midianitischer Priester dem wahren Gott Opfer darbringt, hat jüdische Rabbinen wie christliche Exegeten in gleicher Weise erstaunt und hat doch gänzlich unterschiedliche Erklärungen gefunden. Die Antwort christliche Exegese war (seit J. Wellhausen) die sog. Midianiterhypothese, der gemäß die Midianiter schon zuvor Jhwh-Verehrer waren und die Israeliten sich erst später diesem Kult anschlossen. Das stellt den Inhalt des Text allerdings auf den Kopf! Die rabbinische Tradition hingegen geht davon aus, dass Jitro vor dem Opfer konvertiert ist und macht ihn zum Modell und Beispiel der Konversion.
[8] E. Zenger, Was wir Christen von der jüdischen Schriftauslegung lernen können. Am Beispiel des Jonabuchs, in: BiKi (1996), S.46-53, warnt zurecht, dass eine christliche Leseweise des Jonabuches allzuoft auf das Thema Juden-Heiden verkürzt, statt in ihm die Universalität der Liebe und die Dialektik von Gerechtigkeit und Liebe (ebd. S.53) zu entdecken. Er sieht darum in Jona und weniger in den Nichtisraeliten die Hauptperson.
Abends dann das erste Mal in der ´Großen Synagoge` (mit über 800 Sitzplätzen allein für Männer und in der oberen Galerie nochmals 400 für Frauen, die größte von Jerusalem) zum kabbalat shabbat / zur Begrüßung des Schabbat, dem Vorabendgottesdienst. Ein großer, trotz aller Schlichtheit beeindrucken-der Raum. Die fünf Fenster strahlten auch von innen noch solange in leuchtenden Farben wie die Sonne nicht untergegangen war. Im Gottesdienst selbst sang, neben dem Kantor, ein auch stimmlich starker Männerchor.
Tag 19 - 28. Sept (Blockseminar)
Der dritte Tage im Blockseminar von morgens um 9 Uhr bis abends um 18 Uhr. Es ist interessant, die Diskussion sehr anregend und im Ergebnis oft überraschend, aber es ist auch anstrengend. Ich spüre förmlich, wie lang meine Studienzeit zurückliegen. Kaum vorstellbar, dass ich in meiner Examenszeit wochenlang zehn Stunden und auch mehr mehr lesend und schreibend am Schreibtisch saß. Der Spaziergang durch die kühle, abendliche Luft tut gut. Ich suche mir eine ruhige Bank mit einer möglichst schönen Aussicht und versuche zur Ruhe zu kommen.
Bevor ich mich auf den Heimweg mache, hole ich Stift und ein Blatt Papier aus meinem Rucksack und schreibe ein paar Zeilen auf.
Tag 18 - 27. Sept (Blockseminar)
Der Israeli und sein Auto! Wer nur wenige hundert Meter durch die Straßen an parkenden Autos vorbeigeht, kann es nicht übersehen. Die Erkenntnis drängt sich einem förmlich auf. Der Israeli hat ein anderes Verhältnis zu seinem Auto als der Deutsche. Es ist kein Statussymbol, sondern ein Nutzgegenstand. Es sind zwar vergleichbar große und teure Marken, aber ein Kratzer im Lack, eine Delle im Kotflügel werden anders gesehen und bewertet. Sie sind kein Grund, aufgeregt in die Werkstatt zu fahren, um den Schaden für viel Geld zu beheben.
Natürlich, nicht jedes Auto sieht so aus! Aber ich musste auch nicht lange suchen, um diese drei Fotos zu machen. Ein kleiner Spaziergang reichte aus und ich konnte aus einer größeren Galerie an Beispielen diese drei auswählen.
Minarett auf dem Tempelberg bei Nacht
Heute den ganzen Tag mit der Studiengruppe und Prof Krause in der Bibliothek des Studienzentrums intensive Exegese der Geschichte von Jitro (Ex 18) und der Hure Rahab (Jos 2). Sehr konzentrierte Arbeit an den hebräischen Texten, nur unterbrochen durch häufiges Geheul der Polizeisirenen. Irgendetwas schien mal wieder los zu sein. Auf dem Weg zum Hospiz der Auguste-Viktoria habe ich das erste Mal während meiner Zeit in Jerusalem ein mulmiges Gefühl und erhöhe mein Tempo. Am Damaskus-Tor der Altstadt hat sich eine große Gruppe palästinensischer Jugendlicher, alle schwarz gekleidet, zusammengefunden und spielt mit der Polizei Katz und Maus. Immer wieder setzten sich Dutzende Jugendlicher in Bewegung und rennen eng an mir vorbei, stoppen, drehen sich um und machen lachend mit ihren Handys Fotos. Es ist nicht wirklich gefährlich, aber ich bin mir unsicher, ob ich nicht durch eine unvorsichtige Bewegung mitgerissen werde und ins Stolpern gerate. Beim After-work-dinner grinst mich auf Nachfrage, was denn heute los ist, eine ganz liebe Dame aus der evangelischen Gemeinde, die seit vielen Jahren in Jerusalem lebt, an und erklärt: ´Weißt du es denn nicht!? Das ist ist nichts besonderes, das ist doch jedes Jahr so. Heute ist der Geburtstag des Propheten! Die palästinensischen Jugendlichen haben morgen schulfrei und die Jüngeren versuchen die Polizei zu provozieren. Da passiert aber nichts, da kannst du ganz beruhigt sein.` In der Tat hat sich die Menge am Tor spätabends aufgelöst, auf dem Rückweg ist kaum noch jemand zu sehen. Die Lage hat sich sichtlich entspannt.
EKD
Leicht angespannt ist die Situation auch in der deutschen, evangelischen Erlösergemeinde. Die Ratsvorsitzende Annette Kurschus, Bischöfin Petra Bosse-Huber und weitere dreizehn, gewichtige Vertreter der EKD sind ab heute in Jerusalem zu Besuch. Die Volontäre erzählen mir, dass sie für diesen Anlass gebeten wurden, weißes Hemd bzw. weiße Bluse und eine schwarze Hose aus Deutschland mitzubringen. Sie dürfen morgen Schnittchen und kalte Getränke reichen. ´Da muss ich wohl noch mein Hemd bügeln!` lacht zum Abschied ein 19jähriger Volontär. Ich bin mir sicher, am Sonntag nach dem Gottesdienst, wenn die Delegation wieder nach Deutschland fliegt, wird sich auch da die Situation wieder entspannen...
Tag 17 - 26. Sept (Beginn des Blockseminars)
Jom Kippur ist zu Ende. Und es war hörbar. Als ich heute Morgen aufwachte, herrschte wieder die gewohnte Hektik einer Großstadt wie Jerusalem. Der Lärm und die Autos auf den Straßen waren zurück. Zumal ich den Eindruck habe, dass man das Auto mit der Hupe fährt. Der Jerusalemer scheint sich geradezu kindlich zu freuen, wenn er auch nur den geringsten Grund findet, sie zu betätigen. Und so entstehen kleine Hupkonzerte der ganz eigenen Art. Hat der Vordermann erst einmal einen Anlass gefunden und hupt kurz auf, setzt der Hintermann gleich ein, um zu zeigen, dass er der gleichen Meinung ist. So etwas kann sich dann bis zum vierten und fünften Auto hintereinander fortsetzen...
Tag 16 - 25. Sept (Jom Kippur)
Nach dem langen gestrigen Tag habe ich heute verschlafen. Für den Synagogen-Gottesdienst ist es zu spät. Ich werde später den Streaming-Dienst nutzen und jetzt erst einmal zur ´Klagemauer`, zur Kotel ( לכות / Mauer; kein Jude würde sie heute noch Klagemauer nennen, denn sie kein Ort der Klage, sondern es ist die Westmauer des herodianischen Tempels) gehen. In den letzten Tagen hatte ich den Weg dorthin bewusst gemieden, weil er mir irgendwie zu touristisch erschien. Aber heute erscheint er mir sinnvoll und passend.
Tag 15 - 24. Sept (Slichot / 16. Son n Trin / Jom Kippur)
Heute, frühmorgens um 3 Uhr (!!), gefühlt also mitten in der Nacht, aufgestanden, gewaschen, angezogen und zu den Slichot-Gebeten in die Synagoge gegangen.
beit knesset ´Haus der Versammlung` / Synagoge
Vor Jom Kippur, dem jüdischen Versöhnungsfest, das heute Abend beginnt, geht man in die Synagoge zu den Slichot-Gebeten (von סְלִיחָה ´Vergebung`). Es sind Gebete der Reue und der Buße an den hohen Feiertagen, die den Morgengebeten vorgeschaltet werden - also, aufstehen leider schon um 3 Uhr. Aber es lohnt sich! Wir waren zu Gast in einer ganz kleinen Synagoge, sodass ich schon befürchtete, wir würden als acht Männer aus der Studiengruppe in dem engen und voll besetzten Betraum jemandem, der noch kommen würde, den Platz wegnehmen. Wichtiger aber war die Erkenntnis, wie fest das christliche Gnadenverständnis im jüdischen verankert ist. Die dreizehn göttlichen Attribute der Barmherzigkeit, die dreizehn Namen Gottes, spielen eine zentrale Rolle. So antwortet die menschliche Reue gleichsam auf Gottes Vergebung und antwortet Gottes Vergebung auf menschliche Reue. Gerade wenn man von einer lutherisch geprägten Theologie mit ihrem ´schrägen Blick` auf das Judentum herkommt, darf man sich wundern.
Nach Ende der Slichot-Gebete dann die Suche nach dem Platz mit den Kapparot-Hühnern. Eine verbreitete (Un?)Sitte, die zu Jom-Kippur dazugehört, von den Rabbinen aber mehrheitlich kritisch gesehen bzw. vehement abgelehnt wird. Ursprünglich gehört nämlich zu diesem Tag der Sündenbock, der auch in unseren Sprachgebrauch eingegangen ist. Die Schuld wird gleichsam auf den Kopf des Bocks aufgestemmt bzw. übertragen und anschließend wird er in die Wüste geschickt, ein zweiter wurde im Tempel geopfert (vgl. Lev 16, 20ff). Einen Tempel gibt es nicht (mehr), also gibt es auch keine Opfer und damit keinen Sündenbock mehr. Im Volksbrauch ist nun die Sitte der Hühner als Ersatz entstanden. Das Huhn wird gepackt, in einer Bewegung kreisförmig über den Kopf geführt und anschließend geschächtet, d.h. mit einem Schnitt wird der Kopf abgetrennt und das Tier so aufgehängt, dass das Blut (als Ort des Lebens) auslaufen kann. (Blut wird nicht verzehrt! - Das gilt übrigens laut Beschluss des Apostelkonzils in Apg 15, 29 auch für uns als Christen!) Diese Tiere werden dann den Armen als Stärkung vor dem Fasten überlassen bzw. gespendet. Als wir an dem Platz ankommen, ist das Spektakel aber bereits beendet. Zur Freude aller Vegetarier und Tierfreunde! Insofern handelt es sich bei dem abgebildeten Huhn um kein Kapparot-Huhn, es darf weiterleben...
Sind die Kapparot-Hühner bereits ein Ersatz für den Sündenbock, gibt es auch für die Kapparot-Hühner wiederum einen Ersatz, sozusagen ein ´Ersatz für den Ersatz`. Das ist das Spenden, nicht von Hühnern sondern von Geld. So standen überall Geldboxen bereit oder waren freundliche Männer willens, das Geld entgegenzunehmen.
Nochmals: Nachdenken über Jom Kippur
Nach Rosh Hashanna gehen heute die ´Tage der Reue` zu Ende und beginnt abends das große Versöhnungsfest Jom Kippur. Der berühmte jüdische Gelehrte Maimonides (oder mit dem rabbinischen Akronym RaMBaM für Rabbi Mosche Ben Maimon) schreibt im 12. Jahrhundert: „Der Umkehrende ist dem Schöpfer lieb und nah, als habe er nie gesündigt, mehr noch: Sein Verdienst ist größer, denn obwohl er die Sünde geschmeckt hatte, wandte er sich von ihr ab und bezwang ihren Trieb.“ Darf man sich bei dieser Einsicht nicht an: „So wird im Himmel mehr Freude sein über einen Sünder, der umkehrt, als über 99 Gerechte, die eine Umkehr nicht nötig haben“ (Lk 15, 7) erinnert fühlen? Es geht nicht darum, fehlerfrei durch`s Leben zu kommen, sondern seine Fehler zu erkennen und spätestens an Jom Kippur auf sein Gegenüber zuzugehen und sich zu versöhnen oder, bei schuldhaftem Verhalten Gott gegenüber, Fehler mit Gebeten zu sühnen. Im feierlich gesungenen Kol Nidre (´alle Gelübde`), einem wichtigen Bestandteil des Abendgebetes, das erst leise und bis zum dritten Mal immer lauter vorgetragen wird, wird ein Widerruf aller persönlicher Gelübde und Eide Gott (!) gegenüber, die unwissentlich oder auch unüberlegt abgelegt wurden, widerrufen. Im antisemitischen Denken wurde auch daraus eine schlimme Verdrehung: Mit Juden, so die Behauptung, kannst du keine Verträge schließen. Denn spätestens an Jom Kippur brechen sie alle ihre Verträge. Dabei war gerade das Kol Nidre für Juden im Mittelalter eine Möglichkeit, unter Zwang (!) abgelegte Gelübde und Schwüre wieder zu lösen.
Um 10.30 Uhr dann Gottesdienst in der evangelischen Erlöserkirche. Schließlich ist heute zugleich der 16. Sonntag nach Trinitatis. Wir werden begrüßt mit der Frage: ´Wissen Sie, was unser Herr heute gemacht hat?` Na, was soll er schon gemacht haben!? Er hat in der Nacht Slichot gebetet. Denn es ist doch bald Jom Kippur und ´unser` Herr Jesus war ein frommer Jude. Und, so der Kommentar weiter: ´Deshalb ist er jetzt müde!` Ich kann dem aus vollem Herzen nur zustimmen...
Predigttext ist heute Hebr 10, 25f ´Darum werft euer Vertrauen nicht weg, welches eine große Belohnung hat.` Wieder einmal wird deutlich, dass, wer solche Texte liest, in die biblische Sprachschule gehen muss. Vertrauen, das klingt sehr leicht nach einer eher passiven Einstellung, einem Bewusstsein, einer Gesinnung. Im griechischen Text aber steht hier der Begriff der παρρησία / parrhesia und das meint etwas höchst aktives, heißt tätige Zuversicht und Freimut, aber auch Redefreiheit. Damit wird ein Handeln beschrieben, gleichsam der Vollzug des Glaubens. Der Propst jedenfalls predigt heute höchstpersönlich, sehr ansprechend, sehr nachdenklich, sehr gut! Nach dem Gottesdienst bin ich höchstpersönlich überrascht. Ich treffe den theologischen Landeskirchenrat meines Kirchenkreises. Er hat zum Predigttext eine einschlägige Meditation geschrieben, die der Propst ganz offensichtlich gelesen hat. So kann der Herr Landeskirchenrat gleich hören, ob bzw. dass er verstanden wurde. Ob auch der Herr Propst wusste, wer da unter manch anderen Hörern vor ihm sitzt? Das entzieht sich meiner Kenntnis. Wir jedenfalls begrüßen uns und wechseln ein paar Worte. Dann muss ich schon zu meiner zweiten Überraschung. Denn ich stelle fest, dass sich eine Reisegruppe aus meiner ersten Gemeinde auf den Weg ins Heilige Land gemacht hat. Ein Tag voller Überraschungen!
Abends der zweite Besuch einer Synagoge an diesem Tag, jetzt zum Abendgebet am Vorabend zu Jom Kippur. Es ist der wichtigste und heiligste Feiertag im Judentum! Darum gab es zuvor einige Hinweise: Möglichst hell anziehen, am besten weiß. Manche der Männer, die man v.a. auf dem Weg in die Große Synagoge sieht, haben wiederum den weißen Kittel an, Symbol dafür, dass sie an diesem Tag gleichsam vor Gott treten, und er über sie richtet. Aber auch Frauen tragen weiß und nicht anders dominiert natürlich auch in der Synagoge diese Farbe.
zwei Frauen auf dem Weg zur Synagoge - man beachte die ´modischen ` Latschen aus Gummi
Da das Fasten (als Zeichen der Reue) anbricht, möglichst nichts aus Leder anziehen oder tragen (keine Lederschuhe, keinen -gürtel); nichts trinken und das Handy absolut ausstellen, selbst die Vibrationseinstellung. Das war klar, deutlich und hilfreich! Das Leben steht an diesem Tag gleichsam still. Auf den Straßen fahren höchstens noch Polizei und Krankenwagen. Allerdings, es dauerte nicht lange, und ich konnte für jede Regel in der Gemeinde ein Gegenbeispiel finden. In einer konservativen oder orthodoxen Gemeinde hätte das sicher Ärger verursacht. Der ernste Charakter, der diesen Tag prägt, drückt sich jedenfalls in den Melodien und Klagegesängen aus. Jetzt an Jom Kippur ist es höchste Zeit, sich mit denen, die wir absichtlich oder unabsichtlich beleidigt haben, zu versöhnen. Bitten um Vergebung machen einen Großteil der Liturgie aus. Zugleich wird der Tag aber als Fest der unzerstörbaren Verbindung mit Gott begangen. Das ist hörbar und erlebbar im anschließenden Feiern auf der Straße. Da keine Autos fahren, sammeln sich zahllose Menschen auf einer großen, sonst stark befahrenen Kreuzung, singen, lachen, tanzen und reden miteinander. Besonders bei zahlreichen Jugendlichen herrscht eine ausgelassene Fröhlichkeit. (Natürlich gibt es davon kein Bild! Das hätte die strenge (Arbeits)Ruhe, auf jeden Fall aber das Empfinden vieler Juden zu Recht gestört.) Noch einmal treffe ich den freundlichen Herrn aus der Synagoge am gestrigen Abend, der mich eindringlich einlädt, am kommenden Schabbat in die Große Synagoge zu kommen, von der er sichtlich schwärmt und in dessen Chor er singt. Ich bin insgesamt von der Stimmung auf dem Platz beeindruckt, von überall strömen Menschen herbei, gehe aber dann doch irgendwann zurück, bin müde und froh, am Ende eines sehr langen Tages in der Stille meines Zimmers anzukommen.
Tag 14 - 23. Sept (´Schabbat Schalom`)
Im jüdischen Verständnis beginnt der Tag mit dem Abend. Denn in der Schrift heißt es: "Und es wurde Abend, und es wurde Morgen. Ein Tag." (1 Mose 1, 5) Ist also einsichtig! Deshalb hat gestern mit dem Sonnenuntergang, wenn die Oberkante der Sonne hinter dem Horizont versinkt, der Schabbat begonnen. Wenn die Dämmerung einsetzt, wenn du ´einen blauen Wollfaden nicht mehr von einem grauen Wollfaden unterscheiden kannst`, so heißt es, werden die Schabbat-Kerzen angezündet. Und er geht bis heute Abend. Und so ´sieht` der Schabbat aus: Es herrscht Ruhe. Gerade in einer so hektischen und manchmal auch sehr lauten Stadt wie Jerusalem äußerst wohltuend.
Und hier noch ein schöner Text, aus dem achten Traktat in der Mischna, zum jüdischen Zeitverständnis. In diesem Traktat wird erzählt, dass GOtt einen Zwölf-Stunden-Tag hat und ihn in vier gleich große Abschnitte unterteilt: In den ersten drei Stunden beschäftigt Er sich mit der Tora, während der nächsten drei Stunden, richtet Er über Seine Geschöpfe, und in den drei darauffolgenden Stunden gibt Er ihnen Nahrung. Am Ende des Tages aber, während der letzten drei Stunden, spielt Er mit dem Leviathan (Avoda Sara 3b). Dieses Spiel Gottes mit dem kosmischen Seeungeheuer kann als unterhaltsamer Zeitvertrieb, freilich ganz eigener Art, verstanden werden, oder als überlegener Sieg im Wettkampf. Dabei bedroht dieses mächtige mythische Ungeheuer weniger die Weltordnung, sondern zeigt die Vielgestaltigkeit von Gottes Schöpfung auf. Er ist nicht Gottes Gegenspieler als vielmehr ein Element in der bunten Welt Gottes, die Er erschaffen hat und noch erhält (vgl. auch Ps 104, 26).
Tag 13 - 22. Sept
Zettel wie man sie jetzt überall in der Stadt finden kann: ´Wir bauen ihre Sukkah (סֻכָּה)`, ihre Laubhütte. Hintergrund: In einer Woche, nur wenige Tage nach Jom Kippur, das jetzt am Wochenende beginnt, ist Laubhüttenfest. Ursprünglich ein Erntefest, erinnert es später an den Exodus (vgl. 2 Mose 23 - übrigens eine beliebte Frage im theologischen Examen, der Zusammenhang von ursprünglichen Erntefesten und ihrer späteren Einbindung in die biblische Geschichte Israels). Dazu gehört eine Laubhütte, die draußen, gerne auch auf dem Balkon, gebaut wird, sodass man nachts durch das aus pflanzlichem Material gebaute Dach die Sterne sehen kann. Wer keine Zeit, kein Geschick oder auch keine Lust hat, kann sich also eine solche Hütte, gegen entsprechende Bezahlung versteht sich, bauen lassen. Ich finde, eine merkwürdige Vorstellung. Wäre das nicht so, als würde man sich in den letzten Adventstagen den Weihnachtsbaum von fremden Leuten aufstellen und schmücken lassen!? Aber wer weiß! Vielleicht gibt es auch das längst schon...
Am Abend Gottesdienst in der Synagoge Beit Kehilat Yedidya und anschließende Einladung von jeweils zwei Studenten in eine israelische Familie zum Essen bzw. der häuslichen Schabbatfeier. Es ist das erste Mal, dass wir als Studiengruppe gemeinsam zum Gottesdienst gehen. Zu dem großen Rosh Hashanna mit entsprechend vollen Synagogengottesdiensten hatten wir uns bewusst aufgeteilt. Wir bekommen von der Studienleiterin zunächst eine kurze Einführung zu Gottesdienst und Gemeinde. Für uns Pfarrer als Kontaktstudenten liegt das Hebraicum weit zurück und im Gottesdienst wird schnell gesprochen, sodass man auch mit Siddur in der Hand, den hebräischen Text vor Augen, schnell wieder den Faden verliert. Die Studis, die gestern glücklich ihre große Prüfung abgelegt und recht fließend Ivrit beherrschen, bewegen sich wesentlich sicherer und gelassener. Manchmal fühle ich mich in meiner Situation an Konfirmanden erinnert, die während des Gottesdienstes auch ein wenig orientierungslos um sich schauen. Es ist ein großer, heller Raum. Männer und Frauen sitzen getrennt. Hier sind sie allerdings lediglich durch einen kleinen Paravent voneinander getrennt. Wir werden sehr, sehr freundlich aufgenommen. Die Sitznachbarn fragen uns, woher wir kommen und helfen beim Suchen der jeweiligen Textstellen. Anders als im Sonntagsgottesdienst ist die Atmosphäre lockerer. Mancher kommt erst im Verlauf des Gottesdienstes, geht durch die Reihen, begrüßt den ein oder anderen Bekannten. Auch kann man, ohne das es stört, während mancher Gesänge und Lesungen leise den Nachbarn ansprechen.
Kabbalat Schabbat Audio - Lecha Dodi - Jüdische.Info (chabad.org)
Bei der letzten Strophe dreht sich die Gemeinde dann zum Eingang und begrüßt, sich verbeugend, den Schabbat wie eine junge, wunderschöne Braut.
Nach dem Schabbatgottesdienst, an dessen Ende wir auch noch einmal als Gruppe aus ´Germanice` gegrüßt werden, gehen Jochen und ich zu unserer Gastfamilie zur häuslichen Schabbatfeier und einem, dem Schabbat entsprechenden, festlichen Abendessen.
Die beiden Schabbat-Kerzen (zwei für: Gedenke und Halte) brennen bereits. Es ist schon spät und sie sollen kurz vor Sonnenuntergang entzündet werden. Dafür ist traditionell die Frau zuständig, die sich mit den Händen die Augen bedeckt und den Segen spricht: ´Gelobt seist Du, Adonai, unser König, GOtt der Welt, der uns durch Seine Gebote geheiligt hat und uns geboten hat, das Licht des Schabbats zu zünden`.
So setzen wir uns gemeinsam an den reich gedeckten Tisch und es beginnt, indem der Hausherr den Kidduschbecher mit Wein füllt und darüber as Kaddosch (קידוש - wörtlich ´Heiligung) spricht (vgl. 2 Mose 20, 8 ´Gedenke des Schabbattages, dass du ihn heiligst` - Dekalog), daraus trinkt und anschließend an alle weitergibt.
Nun waschen wir uns, einer nach dem anderen, auf rituelle Weise die Hände (Netillat Jadajim - vgl. 2 Mose 30, 17ff). Dazu wird ein großer Becher mit Wasser gefüllt, der mit der rechten gegriffen wird, um über die linke Hand Wasser zu geben, anschließend umgekehrt, drei Mal. Abschließend werden die noch nassen Hände aneinander gerieben und wiederum ein Segensspruch gesprochen. Die Gastgeberin ist Jochen und mir zum Glück behilflich, sodass wir uns hoffentlich nicht allzu ungeschickt anstellen. Es gibt aber auch zahlreiche Anleitungen im Netz:
Es folgt der Segen über dem Schabbatbrot, Challa. Ein geflochtenes Brot aus Weißmehl, Hefe, Eiern und etwas Fett.
Weil dieser Schabbat zwischen Rosh Hashanna und Jom Kippur liegt, wird nicht das traditionelle Salz darauf gestreut, sondern streicht der Hausherr ein wenig Honig darüber, isst es und verteilt es dann an alle am Tisch.
Am Ende wird gemeinsam (hebräisch natürlich) das Birkat Hamason gesungen, Jochen und ich haben dankenswerterweise das entsprechende Buch erhalten, und es folgt ein sehr üppiges Mahl mit zahlreichen Gesprächen.
Tag 12 - 21. Sept
Jeder, der schon einmal in Jerusalem war, wird es kennen: Das plastische Stadtmodell im Maßstab 1:50, das Jerusalem zur Zeit des Zweiten Tempels, im Jahr 66 n.Chr., darzustellen versucht.
Aber auch wer noch nicht vor dem imposanten Modell (die Fläche umfasst immerhin fast einen Quadratkilometer!) auf dem Gelände des Jerusalemer Israel-Museums gestanden hat, wird es schon gesehen haben. Fotos davon finden sich in zahlreichen Schulbüchern oder als Illustration in Büchern zum antiken Israel und zu biblischen Texten.
Auch wenn die historischen (v.a. Texte des jüdischen Historikers Flavius Josephus und des Mischna-Traktats Middot) sowie die archäologischen Informationen beschränkt waren, vermittelt es ein eindrückliches Bild von der Blütezeit Jerusalems, als der große Aufstand gegen die Herrschaft der römischen Supermacht ausbrach, zunächst Erfolg versprach, dann aber mit der Zerstörung von Stadt und Tempel im Jahr 70 n.Chr. endete. Der Bezugspunkt 66 n.Chr. als Blütezeit der Stadt und der Aufstand gegen Rom in fast aussichtsloser Lage ist sicher kein Zufall.
Und die Tempelanlange (בֵּית־הַמִּקְדָּשׁ Bet HaMikdasch), der Herodianische Tempel. Denn unter Herdodes dem Großen begann 21 v.Chr. eine aufwendige und prachtvolle Umgestaltung, die sich noch bis nach seinem Tod hinzog und erst kurz vor Ausbruch des Jüdischen Krieges (66-73/74 n.Chr.) zum Abschluss kam bzw. im August 70 n.Chr. mit dem Brand und der Plünderung bereits ihr Ende fand. Das Modell lässt sehr eindrücklich die verschiedenen Vorhöfe für Frauen, Männer und Priester (Brandopferaltarbereich) sowie das Tempelhaus und das Allerheiligste erkennen. Im Gegensatz dazu diente der große äußere Bereich der Stadtbevölkerung wohl eher als Forum.
Eine sehr imposante Anlage also! Weil aber in Israel irgendwie alles politisch ist, hat auch dieses Modell nicht nur einen pädagogischen Wert, sondern letztlich auch einen politischen Hintergrund, ist seine Entstehung doch eng mit der israelischen Situation zwischen 1948 und 1967 verbunden. Nach dem Unabhängigkeitskrieg 1948 war es für Israelis nämlich bis zum Sechs-Tage-Krieg 1967 unmöglich, die Altstadt zu besuchen. So ist das Modell zugleich ein Denkmal für den im Unabhängigkeitskrieg gefallenen Sohn von Hans Kroch, der für die Anlage Geld und das Gelände zur Verfügung stellte.
Wer freiern will, muss arbeiten (vgl. schon 2 Thes 3, 10b!), der muss aber v.a. einkaufen. Weil morgen der Schabbat beginnt und dann auch schon Jom Kippur, muss ich noch in den ´ALDI`, den großen Jerusalemer Einkaufsmarkt meines Vertrauens, der gleich um die Ecke liegt und alles bereithält, was ich so brauche.
Am Ende eines Tages noch ein persönliches Wort: Ich komme nach einem langen Abend zurück und freue mich darauf, den Code einzugeben, auf das Surren zu warten und durch die kleine Tür in den Innenhof des ehemaligen Klosters zu gehen. Die Mauern rund um den Garten lassen mich nach diesem Abend wieder Ruhe und Geborgenheit spüren.
Hinter mir liegt ein Vortagsabend in der Dormitio. Ich war schon etwas früher da, ein Pater macht mir die Tür auf und lädt mich ein in die Krypta zum Abendgebet. Die alte, einfache Liturgie nimmt mich schnell mit und lässt mich zur Ruhe kommen. Dann der Bericht eines palästinensischen Christen über sein Leben im Ausnahmezustand. Die Situation der Christen in Palästina. Er hat traurige Augen, manchmal macht er im Reden lange Pausen, sucht nach Worten, und nicht nur weil er Englisch spricht. ´We live from day to day ... without hope ... there is no light at the end of the tunnel` habe ich mir auf einem Zettel mitgeschrieben. Und ein wenig später: ´You know, it takes a miracle...` Zugleich kann er auch sehr engagiert und überzeugt von einer Mission reden. Wenn wir als Christen, und das gilt, wie er betont, auch in Deutschland, wirklich und überzeugte Christen werden, können wir die Welt verändern.
Auf dem Rückweg gehe ich an der Mauer der Altstadt vorbei. Überall ist viel Polizei und Militär. Ich beobachte drei junge Soldatinnen, die einen noch jüngeren palästinensischen Jugendlichen, schlacksig und unsicher steht er da, untersuchen. Taschenleerung! Er muss alles, es ist nicht viel, auf eine Mauer legen. Ich denke unwillkürlich an den Vortrag nur wenige Minuten zuvor zurück.
Andererseits pulsiert die Stadt. Große Gruppen Jugendlicher kommen mir entgegen. Es sind so viele, dass ich manchmal beiseite treten und auf die Straße ausweichen muss. Die Stimmung ist überall laut und ausgelassen. Was für Gegensätze! Mich überkommt eine leise Melancholie. Willkommen in Jerusalem, denke ich. Ich habe es mir bewusst ausgesucht, wollte nicht nur als Tourist die hochpolierten Prospektseiten der Stadt sehen. Dennoch bin ich jetzt froh, in meinem Gästehaus angekommen zu sein und die Tür hinter mir zu schließen. Was wird der Tag morgen bringen! Am späten Nachmittag beginnt der Schabbat.
Tag 11 - 20. Sept
In Jerusalem ist alles alt und hat Geschichte. Könnte man denken. Doch weit gefehlt. Auch in Jerusalem kann einem hochmoderne, faszinierende Architektur begegnen. Die über 100 m in den Himmel hinaufragende Spitze der ´Harfenbrücke` gehört seit 2008 ganz sicher dazu. Und wie es sich für moderne Architektur gehört, gingen und gehen die Meinungen über eine solche Brücke aus Glas und Stahl auseinander.
Und wie kam es zu dem Bauwerk? Der konkrete Anlass war der Aufbau einer hochmodernen Straßenbahn in einem schon eng bebauten Viertel.
Nach der Einweisung gestern, heute erstmals in der Bibliothek gesessen und gearbeitet. Das ist schon ein ´irres` Gefühl, auf dem Weg dorthin in Blickweite zur amerikanischen Botschaft und direkt am Dienstsitz des Premierministers vorbei zu deinem Studienplatz zu gehen, die Residenz des Staatspräsidenten vor dir und die Knesset in Sichtweite hinter dir. Die Bibliothek ist sehr geräumig und gut aufgestellt, sodass man sich auch ohne Katalog schnell zurechtfindet. Es war ruhig und bei offener Balkontür auch angenehm kühl. Eine gute Arbeitsatmosphäre und ein wunderbares Geschenk. Eigentlich hätte ich also direkt loslegen können. Aber, natürlich, musste ich erst einmal durch die Räume an den Regalen entlanggehen und stöbern. Dabei habe ich ein kleines Büchlein des litauisch-französischen Philosophen Emmanuel Lévinas, ein zutiefst humanistischer Denker (´Freiheit beginnt beim anderen`), in (zu meiner großen Freude) deutschen Übersetzung gefunden. Vieles ist leider nur in Französisch erhältlich.
In einer kürzeren Ansprache in der Sendung Ecoute Israel aus dem Jahr 1955 habe ich mich gleich festgelesen und einige Passagen abgeschrieben, die ich für alle Interessierten hier wiedergeben möchte mit dem Rat an alle, nehmen Sie sich die Zeit und lesen Sie. Es lohnt sich!
"... Und welches Verderbnis für einen Schriftsteller [und man darf als Theologe vielleicht ergänzen: und Prediger] nur von Menschen gelesen [und gehört] zu werden, die weniger gelehrt sind als man selbst. ... Ein Gott für Erwachsene manifestiert sich gerade durch die Leere des kindlichen Himmels. Es ist der Augenblick, da Gott sich von der Welt zurückzieht und sein Antlitz verhüllt. ... Die Lage der Opfer in einer aus den Fugen geratenen Welt, in der es dem Guten nicht zu siegen gelingt, ist Leiden. Es offenbart einen Gott, der, indem er auf jede hilfreiche Manifestation verzichtet, an die Reife des voll verantwortlichen Menschen appelliert. ... [Und nun zitiert er das sehr lesenswerte Buch von Zvi Kolitz, Jossel Rakovers Wendung zu Gott, in dem Kolitz als fiktiver Erzähler Jossel ben Jossel, den letzten Überlebenden seiner Familie kurz vor der Ermordung durch die Nazis, sagen lässt] ´Ein Jude zu sein, heißt: ein Kämpfer sein. Ein ewiger Schwimmer gegen den schmutzigen, verbrecherischen Menschenstrom. ...` Die Intimität des mannhaften Gottes erwirbt man in einer extremen Prüfung. Durch meine Zugehörigkeit zum jüdischen Volk, das leidet, wird der ferne Gott zu meinem Gott. ... Ist ein Gott möglich, der sein Antlitz verhüllt und als gegenwärtig und innerlich erkannt wird? ... Wir meinen, daß sich darin ... die besondere Physiognomie des Judentums äußert: das Verhältnis zu Gott und dem Menschen ist keine sentimentale Kommunion in der Liebe eines inkarnierten Gottes, sondern eine Beziehung zwischen Geistern vermittels einer Belehrung, der Thora. Es ist gerade ein nichtinkarniertes [nicht, wie im christlichen Denken, Mensch gewordenes] Wort Gottes, das von einem lebendigen Gott unter uns zeugt. Das Vertrauen in einen Gott, der sich durch keine irdische Autorität kundtut, kann nur auf der inneren Evidenz und dem Wert einer Belehrung beruhen. Es hat, das sei zur Ehre des Judentums gesagt, nichts Blindes. Daher jener Satz von Jossel ben Jossel, Höhepunkt des langen Monologs, in dem der ganze Talmud widerhallt: ´Ich habe ihn [GOtt] lieb, aber seine Thora habe ich noch lieber. Und selbst hätte ich mich in ihm getäuscht - seine Thora würde ich weiterhüten.` Ist das Gotteslästerung? Zumindest Schutz vor dem Wahn eines unmittelbaren Kontakts mit dem Heiligen ohne vermittelnde Gründe ... Des Vertrauens in einen abwesenden Gott fähig ... [Und dann als Schlusssatz Lévinas`] Die Thora noch mehr lieben als Gott, eben das hat bedeutet, zu einem persönlichen Gott zu gelangen, gegen den man sich empören kann, das heißt für den man sterben kann."
Es ist wirklich sehr zu bedauern, dass viele Text von Lévinas noch nicht vom Französischen ins Deutsche übersetzt sind. Andererseits ist es verständlich. Lévinas hatte in den 1920er Jahren in Straßburg und (bei Husserl und Heidegger) in Freiburg studiert. 1940 geriet er dann in deutsche Kriegsgefangenschaft und erfuhr 1945, dass Eltern wie Brüder durch deutsche Nazis ermordet wurden, worauf er den Schwur tat (und auch durchhielt), nie wieder deutschen Boden zu betreten.
Hier noch ein zweites Bild von einer besonderen Brücke, eine etwas über 200 m lange Hängebrücke, die, südlich der Altstadt, das Tal Ben-Hinnom mit dem Zionsberg verbindet. Es ist wohl mit 80 m die längste Hängebrücke in Israel überhaupt und hat fast 5 Mio Euro gekostet.
Das israelische Tourismusministerium hofft, dass die an Kabel hängende Brücke für Besucher aus In- und Ausland eine neue Attraktion wird. Für mich hat sie auch eine symbolische Bedeutung. Betrachtet man das Bild genauer, erkennt man an der Kuppe des zweiten Hügels von rechts nämlich eine Mauer zwischen Israel und den palästinensischen Gebieten. Es ist ein Teilstück der l750 km langen, ja, und das fängt es schon an schwierig zu werden. Wie soll man es nennen. Schon der Name ist umstritten. Soll man es als Sperranlage, elektronisch überwachte Sicherheitsmaßnahme oder Terrorabwehrzaun, Betonmonster, vielleicht sogar als Apartheids-Wall bezeichnen? Je nach Perspektive, aus der man sie sieht und erlebt, findet diese (in einigen wenigen Bereichen bis zu acht Metern hohe) Mauer ihren Namen.
Wie war es dazu gekommen? Die palästinensischen Terroranschläge hatten nicht zuletzt im Zuge der Zweiten Intifada Anfang der 2000er zugenommen. ´Jerusalem war das Hauptziel palästinensischen Terrors. ... Diejenigen, die Kaffeehäuser der Stadt aufsuchten, fühlten sich als nähmen sie an einem russischen Roulette teil. ... Busfahrten wurden zur Zerreißprobe, da man nicht sicher war, ob man lebend heimkehren würde`, fasst der Israeli Gil Yaron die Situation eindrücklich zusammen. Es musste also etwas geschehen. Mitte 2002 wurde unter Premierminister Sharon mit dem Bau begonnen.
Tag 10 - 19. Sept
Ein Blick aus der Haustür meines Gästehauses: Eine Gruppe südamerikanischer (?) Studenten spielen in drückender Hitze mit großer Begeisterung Volleyball. Meine größte Befürchtung, dass sie mich fragen, ob ich mitspielen will. Vielleicht weil sie meine Verwunderung gesehen, vielleicht weil sie intuitiv meine churchillsche Einstellung zum Sport (zumal in der Mittagshitze) geahnt haben, ich wurde jedenfalls nicht gefragt.
Gut gesichert, liegt hinter dieser Absperrung die Residenz des Premiereministers Benjamin Natanyahu, den in Israel alle (der eine mehr, der andere vielleicht auch weniger) liebevoll Bibi (ביבי) nennen, in der Balfour Street (nach dem britischen und für die Anfänge Israels wichtigen Premierminister Arthur Balfour!?) . 2021, nach seiner Abwahl, hatte es einige Wochen gedauert, bis er den offiziellen Sitz des Regierungschefs verließ. Bei Protesten vor der Residenz hatten Demonstranten bereits Plakate mit der Aufforderung ´Bibi, fang an zu packen` hochgehalten. So zog er im Juli 2021 aus, wurde aber Dez 2022 mit Hilfe der religiösen politischen Parteien erneut zum Ministerpräsidenten gewählt.
Nicht weit davon entfernt die Präsidialresidenz des Staatspräsidenten (kurz: נָשִׂיא Nasi, der Präsident) Jitzchak Herzog. Vom Balkon des Studienzentrums hat man einen schönen Blick auf das Eingangstor. Bei einem interessanten Besuch hat man hier, mehr noch als bei ARD und ZDF, einen Platz in der ersten Reihe.
Das Studienzentrum selbst ist in den Räumlichkeiten innerhalb einer Dachwohnung mit Balkon und wunderbarem Ausblick auf Knesset und Harfenbrücke untergebracht. In einem sehr angenehmen, langen Gespräch haben wir uns über unsere unterschiedlichen Studienprojekte ausgetauscht, die wir mit nach Jerusalem gebracht haben.
Noch einige Anmerkungen zum Gebäude, weil sie etwas für Jerusalem Typisches zeigen. Das Haus sieht aus wie ein Neubau. Ist es aber nicht. Vielmehr ist es ein um Schutzräume (etwa gegen eventuelle Raketenangriffe aus dem Gazastreifen) und Erdbebensicherung erweiterter Altbau. Um diese teuren Maßnahmen finanzieren zu können, gibt es die Baugenehmigung für ein oder zwei zusätzliche Dachetagen. So wurde uns denn auch gleich erklärt, wie wir uns im Notfall sinnvoll zu verhalten hätten.
Wenn ich aus dem Gartentor trete und in die Stadt gehe, braucht es nicht lange, meist sind es nur ein paar Meter, bis ich auf Soldaten treffe, einzelne oder auch in Gruppen. In ihrer khakifarbenen Uniform gehören sie zum Stadtbild. In den 70er / 80er Jahren aufgewachsen, gehörte ich wie selbstverständlich zur Friedensbewegung. Der Sticker ´Schwerter zu Pflugscharen` und das lila Dreieckstuch vom Kirchentag 1983 in Hannover ´Umkehr zum Leben` hängt noch heute wie eine mahnende Erinnerung an einem meiner Bücherregale. Für diejenigen, die zum Bund gingen, hatten wir weder in unserer kirchlichen Jugendgruppe noch in der Jahrgangsstufe meiner Schule Verständnis und merkten gar nicht, wie intolerant wir waren. Und hier in Israel? Bei meinem ersten Besuch in einem Kibbuz kam morgens ein junger Vater, liebevoll mit kleinem Kind auf dem Arm, zum Frühstück und hatte, ganz selbstverständlich, eine Pistole im Halfter seiner etwas locker sitzenden Bermuda mit Blümchen. Ich fürchte, ich habe ihn für einen Moment fassungslos angestarrt. Israel ist nicht Deutschland! Aufrüstung, Militarisierung und schließlich die anfängliche Kriegseuphorie des Ersten und auch Zweiten Weltkriegs sind deutsche Traditionen. Israel hat sich unter dem Druck der Realität notgedrungen durch und durch bewaffnet. Der junge Mann in Zivil, die MP lässig über die Schulter hängend, der mir gestern spätabends entgegenkam, irritiert mich trotzdem. Gleichzeitig denke ich, dass er (wie andere Israelis auch) stolz ist, sich wehren zu können, und trotzdem nicht glücklich ist, ständig unter Waffen zu stehen. ´Nie wieder!` das gilt in Deutschland wie in Israel. Allerdings mit gegensätzlichen Konsequenzen. ´Nie wieder Täter!` hier und ´Nie wieder Opfer!` dort. Und deshalb: Wie das Lamm auf der Schlachtbank? Niemals wieder darf das geschehen! 2000 Jahre sind mehr als genug. Aber Held auf dem Schlachtfeld? Das wohl auch nicht. Zumindest nicht wenn sich`s vermeiden lässt. Mein irritierter Blick bleibt. Ich kann und will mich an den Anblick von Waffen nicht gewöhnen. Aber es kommt mir auch nicht zu, Urteile zu fällen.
Tag 9 - 18. Sept
Die Feiertage sind zu Ende. Den ganzen Morgen über schallt in regelmäßigen Abständen wieder ein melodiöser Signalton durch mein geöffnetes Fenster. Die letzten Tagen war die Schule für orthodox gekleidete Männer zur Notunterkunft geworden. Vielleicht waren sie aus den umliegenden Orten zum Neujahrsfest nach Jerusalem gekommen. Jetzt also wieder Pausen mit Kinderlachen und Fußballspiel. Wie sieht Schule in Jerusalem aus? Ich nutze die Gelegenheit, einen kleinen, ganz subjektiven Eindruck zu geben.
Auch wenn eine Schule geschlossen ist, erkenne ich sie beim Vorbeigehen schon daran, dass sie stets gesichert ist: Mauer, Zaun, Sicherheitstor und Gitter vor den Fenstern. Sie hat den Charme eines Gefängnisses. In Italien ist das wohl ähnlich. Aber das macht es ja nicht besser. Lange habe ich das nicht verstanden. Bis mich jemand darauf hinwies, dass ja auch vor jedem größeren Einkaufsmarkt oder auch einer Synagoge Sicherheitspersonal steht. Will ich in ein großes Center gehen, geht das nicht ohne elektronische Taschenkontrolle und Sicherheitsbeamten mit MP an der Schulter. Hintergrund sind wohl die zahlreichen, z.T. sehr blutigen Anschläge in den 80er und 90er Jahren.
Neben den staatlichen Schulen, die von den meisten Schülern besucht werden, gibt es staatlich-religiöse Schulen, in denen entsprechend das jüdische Leben und seine Religion im Zentrum stehen. In den Talmud-Thora-Schulen der Ultraorthodoxen stehen selbst Kernfächer wie Mathematik und Englisch nur selten auf dem Lehrplan. Daneben gibt es noch arabische und drusische Schulen sowie private Schulen unter anderer Schirmherrschaft, wie etwa Talitha Kumi, die wir spätestens von der Kollekte am 10. Son. n. Trin. kennen. Ich habe letzte Woche eine Lehrerin von dort kennengelernt, die mich eingeladen hat, mal vorbeizukommen. Es gibt keine allgemeine Pflicht zur Schuluniform, aber es gibt unterschiedliche Ordnungen und seit 2004 eine Empfehlung des Erziehungsministeriums. Auf dem Bild, das ich im Teddy Park vor der Jerusalemer Altstadtmauer aufgenommen habe, sind die Unterschiede gut erkennbar. Lange Rücke und langarmige Bluse auch bei Temperaturen weit über 30 Grad, das sind Mädchen einer orthodoxen Schule. Daneben toben Jugendliche in einheitlichem T-Shirt mit Schulemblem (und wenn es kühler ist ein Kapuzenpulli), weniger eine Schuluniform als einheitliche Kleidung, die soziale Unterschiede überdecken hilft, von einer nicht-religiösen Schule. Auch in Deutschland wird die Diskussion um Schuluniformen ja immer wieder einmal laut. Warum nicht mal von Israel lernen?! Weniger Schuluniform, sondern eine einheitliche Kleidung, die man preisgünstig in der Schule kaufen kann, scheint mir nicht die schlechteste Lösung. Freitags, kurz vor Beginn des Schabbat, dürfen an manchen Schulen, so habe ich gelesen, die Schüler ihre Einheitskleidung auch im Schrank lassen und Klamotten ihrer Wahl anziehen.
Noch ein letzter Satz zu den Schulen! Auch hier scheint sich die langsame Veränderung der israelischen Gesellschaft wiederzuspiegeln. Es gibt statistische Berechnungen, die davon ausgehen, dass in 30 / 40 Jahren jeder dritte israelische Schüler eine ultra-orthodoxe Schule besucht. Andererseits haben ehemalige Ultraorthodoxe den Staat Israel wegen mangelnder Schulbildung auf Schadenersatz geklagt, weil sie in ihren Schulen kaum Englisch, Mathematik und Naturwissenschaften gelernt hätten. Und der Staat? Der hat die Klage gleichsam an Eltern und Schulen weitergereicht. Schließlich hätten die Eltern die Schulen ausgesucht. Aber auch ultra-orthodoxe Schulen werden durch den Staat finanziert...
Ein (nicht ganz kurzer) Nachtrag zum Predigttext Gen 15 gestern, der vielleicht die Unterschiede in der Lesart biblischer Texte aus jüdisch-rabbinischer und christlich-exegetischer Sicht illustrieren kann. Seit der Aufklärung hat sich, zunächst in den protestantischen, später dann auch in der katholischen Kirche ein historisch-kritischer Zugang durchgesetzt. ´Die Interpretation im modernen Stil gräbt aus, und im Akt der Ausgrabung zerstört sie; sie gräbt sich ´hinter` den Text, gleichsam um den Urtext freizulegen, der für sie der eigentliche Text ist.` So die Beschreibung der US-amerikanischen Schriftstellerin und Kulturkritikerin Susan Sontag. Gefragt wird nach der Entstehung eines Textes und seinen geschichtlichen Hintergründen. ´Wer hat was wie warum wann und wo gefragt?` Wer das allerdings nicht nur in der Vorarbeit für eine Predigt am Schreibtisch tut, sondern auch auf der Kanzel, provoziert zu Recht die gelangweilte Frage des Predigthörers: ´Und was hat das dann noch mit mir zu tun?` Trotzdem hat dieser Zugang sein Recht! Denn ein Text ist weder zeitlos noch ortlos, sondern er ist durch eine konkrete Situation entstanden. Jüdisch-rabbinische Auslegung geht gleichwohl einen anderen Weg. Grundvoraussetzung ist ein Verständnis des Bibeltextes als ein von Gott stammender und noch im Detail so von Gott gewollter Text. Die Schrift, die Bibel, gilt als perfekt und (letztlich) widerspruchsfrei. Alles in ihr hat eine Ordnung. Das klingt zunächst in unseren Ohren vielleicht sehr fundamentalistisch und eng. Das ist es aber ganz und gar nicht! Zugleich gilt nämlich: Die Schrift, die Bibel, will und muss ausgelegt werden. Der Text ist und bleibt auf den Leser, der nach Sinn sucht, angewiesen. Oder, um es mit dem schwedischen Schriftsteller David Lagercrantz zu sagen: ´Man schreibt nur das halbe Buch, die andere Hälfte muss der Leser übernehmen`. So besteht jüdisch-rabbinische Auslegung zwar ´auf der Perfektion des Textes, aber in ihrem Bewußtsein, in ihrer kritischen Haltung, die niemals die Vollständigkeit des Textes in Frage stellt, taucht dennoch der Wunsch auf, jede Geschlossenheit zu verweigern` (Marc-Alain Quaknin, Das verbrannte Buch. Den Talmud lesen S.33 - ein auch sprachlich bezauberndes Buch). Die Schrift ist (innerhalb dieser Grundvoraussetzung) für sehr verschiedene , ja, gegensätzliche Interpretationen offen. ´Der Vollsinn des Bibelwortes wurde nicht für allemal erschlossen. Stündlich wird ein neuer Aspekt entschleiert ... Die Tora studieren, sie prüfen, sie erforschen, ist eine Form des Gottesdienstes ... denn die Tora ist eine Einladung zu lernen, ein Ruf zu fortgesetzter Interpretation` (Abraham Heschel, Gott sucht den Menschen S.211f). Erst im Lesen wird die Bibel zu dem, was sie ist. Wer sich in der Literaturwissenschaft ein wenig auskennt, mag sich an die Rezeptionsästhetik und die Konstanzer Schule um Hans Robert Jauß und Wolfgang Iser, aber auch an den italienischen Semiotiker Umberto Eco (´ein Roman ist eine Maschine zur Erzeugung von Interpretation`) erinnert fühlen. ´Die Absicht des Autors ist die Zuständigkeit des Lesers / er ist der Herr des Geschriebenen. Der Autor verfügt allein über sein Urheberrecht` (so der jüdische Sprachverdichter und Aphoristiker Elazar Benyoëtz). Nun aber konkret zu Gen 15 und dem wichtigen Vers 8, in dem Abram kritisch-zögerlich bei Gott nachfragt. Ich habe zwei interessante und sich widersprechende Auslegungen gefunden. R. Jochanan: ´Seit dem Tag, da der Heilige, gepriesen sei Er, die Welt erschaffen hat, gab es niemanden, der den Heiligen, gepriesen sei Er, Adonai (Luther: HErr) genannt hätte, bis Abraham kam und ihn so nannte` (bBer 7b). Eine schöne Textbeobachtung. Erstmals Abram spricht Gott mit seinem Namen an und wird dafür positiv hervorgehoben. (Theologen wissen, welche literarkritischen Folgen die unterschiedlichen Gottesbezeichnungen seit der Aufklärung innerhalb der Theologie hatten.) Anders Shemuel auf die Frage von R. Abbahu: ´Warum wurde Abraham, unser Vater, bestraft und seine Kinder zweihundertzehn Jahre von den Ägyptern geknechtet?` mit der Antwort: ´Weil er das Maß des Heiligen, gepriesen sei Er, überschritt, wie es (Gen 15,8) heißt: Woran werde ich erkennen, dass ich es in Besitz nehmen werde`. Auch das eine gute Textbeobachtung. Der Vers und die Geschichte werden in Bezug gesetzt zur Zeit der Knechtschaft in Ägypten (Ex 1ff). Abraham wird jetzt also nicht mehr (wie bei R. Jochanan) gelobt, sondern er wird getadelt. Und was gilt? Beides! Denn es wird nicht diskutiert, was richtig(er) oder was falsch ist, beide Auslegungen bleiben gleichberechtigt nebeneinander stehen. Zugleich zeigt sich, dass nicht historisch hinter den Text nach seiner Entstehung zurückgefragt wird, sondern dieser Text mit ganz anderen Texten in Beziehung gesetzt, in einen Dialog gebracht wird.
Heute Abend noch einmal zur Propstei in die Altstadt, Treffen mit der Gruppe der Kontaktstudenten (Frage: Was ist ein Kontaktstudent? Was für Kontakte studieren wir eigentlich!?) und Kennenlernen der Studienleiterin. Zuvor allerdings ein kurzer Abstecher zur Grabeskirche, wo ich diese Bilder machen konnte:
Es ist der Einzug einer Gruppe des Ritterordens vom Heiligen Grab zu Jerusalem. Das ist ein im 19. Jahrhundert konstituierter römisch-katholischer Laienorden und, neben dem Malteserorden, der zweite Päpstliche Ritterorden. Eine Mitgliedschaft kann nicht etwa beantragt werden, hier wird man (aber auch frau) auf Vorschlag eines Ordensmitgliedes ausgewählt. Voraussetzung ist, dass der (spätere) Ritter / die (spätere) Dame katholisch sind, über eine einwandfreie sittliche Lebensführung verfügen und sich in ganz besonderer Weise um die katholischen Einrichtungen im Heiligen Land verdient gemacht haben. Die Ernennung erfolgt dann unmittelbar durch den Papst. Also alle seeehr gewichtig!
Anschließend ein Vortrag zu den jüdischen Festen der kommenden Wochen. Ohne jetzt alle aufzuzählen und zu kommentieren, eines wurde deutlich, wir kommen in den kommenden Tagen aus dem Feiern nicht heraus. ´Festtrunken` werde ich am Ende nach Hause kommen...
Dr. Melanie Mordhorst-Mayer verstand es, in einem 90minütigen Vortrag neugierig zu machen auf das Versöhnungsfest Jom Kippur, das in einer Woche beginnt, auf das ausgelassene Freudenfest über die Weisungen Gottes, Simchat Tora, in der ersten Oktoberwoche, dessen Kenntnis in Theologie und Kirche helfen könnte, manches Missverständnis über das, was in unseren Bibelübersetzungen etwas abschätzig mit ´Gesetz` übertragen wird, zu korrigieren, und schließlich das Laubhüttenfest, Sukkot, in der zweiten Oktoberwoche. Es gibt also viel zu erleben, zu feiern und zu berichten.
Tag 8 - 17. Sept (15. Sonntag nach Trinitatis / Rosh HaShana)
Das jüdische Neujahrsfest geht heute zu Ende. Für mich aber ist heute erst einmal Sonntag. Ich mache mich also auf den Weg in die Altstadt zum Gottesdienst in der Erlöserkirche.
Ich nehme wiederum den Weg durchs Jaffator, eines der sieben in Jerusalems osmanischer Mauer. Genaugenommen gehe ich nicht durch das Tor, sondern lasse die kleinere Öffnung durchs Tor, die in einem Winkel liegt, links liegen und nehme den wesentlich breiteren und darum auch bequemeren Weg durch den Mauerdurchbruch. Auf dem Platz hinter der Mauer stehen, wie auch bei meinem vergangenen Jerusalem-Besuch mehrere, schwer bewaffnete Polizisten. Vor zehn Jahren hatte ich hier beobachtet, wie ein Jugendlicher von der Polizei aus einer Menschentraube herausgerufen, abgeführt und scharf kontrolliert wurde. Er hatte anscheinend eine Kippa getragen, war aber, wie sich bei der Kontrolle herausstellte, kein Jude, sondern Moslem. ´Why am I don´t allowed to wear a kippah?` hielt er dem israelischen Polizist in aggressivem Ton entgegen. Heute aber war es (noch!?) ruhig. Die Polizei stand fast gelangweilt am Rand und beobachtete das Geschehen.
Weil ich schon spät dran bin, nehme ich den direkten Weg und gehe geradeaus in Richtung Bazar. Für die Verkäufer allerdings ist es noch zu früh. Die Geschäfte mit ihren bunten Auslagen sind zwar bereits geöffnet, aber noch sind keine Touristengruppen zu sehen. Umso mehr freuen sich die Händler, als sie mich als möglichen Kunden, vielleicht besser: als potentielles Opfer sichten. ´Hello, Sir! Come see my shop!` schallt es mir von gleich mehreren Seiten entgegen. ´Shopping, Sir`, ruft ein Dritter. ´Come and look, my friend!` Der überall gleiche, vertraute Ton des Bazars. Und ich ahne: Nur nicht hinsehen! Am geschicktesten ist es jetzt, die Augen leicht auf den Boden zu richten. Jetzt bloß kein Interesse zeigen und erst recht keine Fragen stellen! Auch wenn es mich reizt, aus dem Augenwinkel heraus das bunte, manchmal auch kuriose Angebot zu betrachten. ´Pink Freud` steht da (statt ´Pink Floyd`) auf einem schrillen T-Shirt, das ich einem befreundeten Psychologen mitbringen könnte. Auch für die Aufschrift ´I don´t need Google, my whife knows everything` wüsste ich einen dankbaren Abnehmer. So finden sich Souvenirs der unterschiedlichsten Art. Für jeden Geldbeutel ist etwas dabei, für Menschen mit und ohne Geschmack. Alles in allem aber, so mein Eindruck. Jerusalem – made in China. Ausgenommen vielleicht Krippen und Figuren aus Olivenholz. Auch sie in fast jeder gewünschten Größe, die wohl aus Bethelehem kommen. Was auch immer, alles steht dutzendfach, tausendfach dicht an dicht gedrängt, ein ausgesuchtes Massenangebot für Pilger und Touristen aus aller Welt.
Schließlich komme ich an der Kreuzung an, an der links der Muristan mit der evangelischen Erlöserkirche liegt, und ich biege aus der engen Gasse des Bazars ab.
Heute ist der 15. Sonntag nach Trinitatis. Geichwohl, hier im christlichen Gottesdienst wie beim jüdischen Neujahrsfest begegnet mir der biblische Abra(ha)m. Predigttext im heutigen Gottesdienst wird Gen 15 sein.
Dann die Predigt von Pfarrerin Ines Fischer, die ich gleich in ihrer erfrischenden und sehr lebendigen Art mochte.
Theologisch hatte sie mich schon deshalb gewonnen, weil sie uns als Predigerin gleich in einem ihrer ersten Sätze fragte: ´Was geschieht, wenn nichts geschieht - scheinbar oder auch wirklich!?` Was also nutzen große fromme Worte, wenn sie nicht erfahrbar sind? Sind sie nicht wie ein ungedeckter Check? Der ehrliche Glaube, auch der Glaube Abrahams, verfügt über eine breite Farbpalette, auf der deshalb viele Grautöne enthalten sind. Vielleicht auch darum ist die Bibel kein Buch der absoluten Wahrheiten, sondern der Geschichten. Was also geschieht, wenn nichts geschieht, scheinbar oder wirklich, und die großen frommen Worte nicht halten, was sie versprechen? Und das alles in freier Rede! Eine Predigt ohne Manuskript, aber mit fundierter theologischer Konzeption. Wunderbar!
Heute ist er, etwas abseits des Massentourismus, ein Zentrum für Freizeit und Sport, mit kleinem, aber regelmäßigem Kulturprogramm und zahlreichen Essensangeboten, von gehobener Küche bis zur einfachen Tappas Bar.
Leseempfehlung
Wohl dem, der für eine Reise ein gutes und auch noch passendes Buch geschenkt bekommt! Eines dieser Bücher, die ich bekommen habe, habe ich gestern bis tief in die Nacht zu Ende lesen müssen, einfach, weil es so gut war. Und ich möchte es allen, die ebenfalls gerne lesen, weiterempfehlen:
Das Buch, das sei gleich zu Anfang betont, hat nur einen Fehler und der ist das Bild auf dem Einband. Erzählt wird die Geschichte der neunzehnjährigen Chani Kaufmann, die in streng jüdisch-orthodoxen Kreisen Londons aufgewachsen ist. Es geht darum, wie sie in einer solchen Welt voller Regeln und Rituale, in der es eine klare Trennung von Männern und Frauen gibt, einen Mann finden und heiraten kann. Es ist ein liebevoll erzählter Einblick in eine fremde Welt! Nur drei Mal wird Chani als gutes, streng orthodox aufgewachsenes Mädchen ihren zukünftigen Mann sehen und sie werden entsprechend verlegen, unsicher, ängstlich, aber auch voller Hoffnungen heiraten. Sie beide haben keine Ahnung vom anderen Geschlecht und wie das sein wird in der Hochzeitsnacht. Werden sie ihr Glück finden? Verstohlene Blicke beim Kennenlernen und wenige Gespräche ohne jede Berührung vor der Hochzeit müssen reichen. Neben dieser Hauptgeschichte, die am Ende ein überraschendes Ende in der ersten, intimen Begegnung der Hochzeitsnacht findet, werden Nebengeschichten erzählt. Chani, die Braut, kommt aus ärmlichen Verhältnissen, Baruch, der Bräutigam, aus reichem Haus. Da ist also eine zukünftige Schwiegermutter, die in diesem Punkt eine klare Meinung hat und auf bizarre, aber sehr menschliche Weise ihr böses Spiel treibt. Aber Chani hat, trotz allem, ihren eigenen Kopf, manchmal voller Witz und sogar ein wenig Aufmüpfigkeit, sie versteht sich durchzusetzen. Da ist der Rabbiner und seine Frau und ihr Sohn. Auch ihre ganz eigenen (Liebes)Geschichten, die tragisch enden, werden erzählt. Nachdem ich dieses Buch gelesen habe, kann ich an jungen orthodoxen Männern und Frauen manchmal nur noch schwer unbefangen vorbeigehen. Immer wieder läuft unweigerlich ein Kopfkino ab: Wie es wohl war, auf welche Weise sie zusamenngekommen sind. Mit all dem erhält der Leser aber nicht nur einen wunderbar liebevollen wie auch fesselnden Einblick in die jüdisch-orthodoxe Welt. Es ist eben auch hier wie überall in der Welt. In einer Gemeinschaft mit klaren Erwartungen, in der jeder jeden kennt und beobachtet, bleibt das Allzumenschliche nicht außen vor. Insofern erkennt man im Verhalten der Figuren auch eigene Schwächen (und natürlich erst recht die der anderen) wieder. Und worin besteht jetzt der Fehler des Einbandbildes? Chani ist ein junges hübsches Mädchen aus einem gutem orthodoxen Haus. Aber auch zu ihrer Hochzeit würde und könnte sie sich niemals so zurechtmachen wie die Frau auf dem Umschlag. Gerade darum geht es ja! Aber, nichtsdestotrotz, das Buch sollte jeder lesen, der eine wirklich spannende und anrührende Liebesgeschichte lesen möchte. Ein Dank noch einmal an die Schenkerin des Buches und die Buchhändlerin, die sie beraten hat!
Tag 7 - 16. Sept (Rosh Hashana)
שנה טובה ומבורכת - ein gutes und gesegnets Jahr (Neujahrsgruß)
Nach dem Eindruck des (in der Gestaltung nicht ganz typischen) Synagogengottesdienstes in einer Reformgemeinde, jetzt noch einige Hinweise zum jüdischen Neujahrsfest Rosh Hashana:
Die Nacht war still und ruhig. Nach der Synagoge geht man nach Hause in die Familien. Die Türen stehen meist offen, man besucht sich, in der Hand ein Glas Wein oder Traubensaft für den Kiddusch, den Segensspruch für die Weihe der Festtage. So endete übrigens auch der Synagogengottesdienst. Dass zumindest der Kantor mit dem Kidduschbecher den Segen sprach. Zudem fällt in diesem Jahr das Neujahrsfest auf einen Shabbat! Kein lautes Fest also, sondern eine Zeit ernster Sammlung und stiller Selbstprüfung. Man geht in sich. Als die Menschen aus der Großen Synagoge kamen, sah ich, dass vereinzelt Männer einen weißen Umhang über ihrem schwarzen Anzug trugen, der an das Sterbekleid (Tachrichim) erinnern soll. Nach dem Midrasch (jüdisches Auslegungswerk der Schrift) wird die ganze Welt und jeder Mensch in jedem Jahr an diesem Tag geprüft und drei Bücher werden aufgetan: Das Buch der vollkommen Gerechten (sie werden sofort zum Leben eingetragen), das Buch der vollkommen Bösen (sie werden zum Sterben eingetragen) und das (wahrscheinlich sehr, sehr große) Buch der Mittelmäßigen (die bis zu Yom Kippur, dem Versöhnungsfest in zehn Tagen, in der Schwebe bleiben und Umkehr üben sollen). Die Vorstellung solcher Bücher ist biblisch (vgl. Ex 32,32; Ps 86,28f oder Offb 3,5 u.ö.) stark fundiert. Deshalb kann der Neujahrsgruß ebenso lauten: לשנה טובה תכתבו ותחתמו - ´Zu einem guten Jahr mögest du ins Buch des Lebens eingetragen sein`. Auch als Christen kennen wir sie natürlich. Wenn die Vorstellung auch oft nicht sehr bewusst ist. Wir singen zwar zur Taufe ´Nun schreib ins Buch des Lebens, HErr, ihre Namen ein` (EG 207) und wer über einen Friedhof geht, kann auf vielen Gräbern einen als Buch gestalteten Stein sehen, doch der durchaus ernste Hintergrund bleibt zumeist außen vor.
Rosh Hashanah Morning Service - שחרית לראש השנה תשפ"ד - YouTube
Natürlich lohnt es sich auch, sich die Zeit zu nehmen und den ganzen Gottesdienst mit den verschiedenen Lesungen, Liedern und Gebeten zu hören ... 😏
Anschließend gehe ich in einen kleinen Park hinter dem King David Hotel, setze mich auf eine Bank, genieße die Stille und einen wunderbaren Blick auf die Mauer der Jerusalemer Altstadt.
Tag 6 - 15. Sept (Rosh HaShana)
Heute feiern Juden in aller Welt Rosh HaShana, was soviel wie ´Haupt, also Anfang des Jahres` bedeutet und somit das jüdische Neujahrsfest ist. Damit stellt sich die Frage, in welche Synagoge gehe ich? Die Entscheidung scheint mir in Jerusalem ungefähr so schwierig wie in Rom für einen katholischen Christen die Frage, wo feiere ich heute die Messe - natürlich vorausgesetzt, er geht nicht in den Petersdom. Zunächst hatte ich vor, in die Große jüdische Synagoge zu gehen:
Was also tun? Ich mache jetzt das, was ich auch bei der Suche nach einem christlichen Gottesdienst tun würde. Ich gehe in die Synagoge, die in direkter Nachbarschaft liegt, und hoffe, dass es dort auch ohne Anmeldung Platz gibt. Die Internetseite zumindest klingt ausgesprochen einladend. Nur das geschlossene Tor und die Mauer haben mich beim Vorbeigehen etwas irritiert:
Es handelt sich um eine Reformgemeinde, die erst 1958 gegründet wurde. Reformgemeinde heißt im übrigen, dass manches sehr modern sein kann. Und das erste Bild auf der Gemeindeseite zeigt auch gleich, wie weit das geht. Männer und Frauen sitzen zusammen und die Gemeinde hat eine Rabbinerin.
Es war ein sehr kleiner Synagogenraum mit Stühlen. Vorne in der Birma (leicht erhöhtes Podium) der Toraschrein und ein Schulchan (Tisch) mit den zwei Schabbatleuchtern, ein (wegen des Feiertages weiß eingehülltes) Lesepult sowie (durchaus typisch) die israelische Staatsflagge. Besonders überrascht hat mich die zeitweise Begleitung durch eine kleine Trommel und eine Gitarre. Fast wie in Olpe 😉!
Tag 5 - 14. Sept
Jeder Tourist von Jerusalem kennt sie, die große, sogenannte Montifiore Mühle. Auch sie ist ein Wahrzeichen von Jerusalem. Mitte des 19. Jahrhunderts noch außerhalb der Stadt gebaut, war sie Teil der Bemühungen, ein neues Wohnviertel zu errichten. Auch wenn man sich fragt, wie bei dem Klima und den hiesigen Windverhältnissen eine Mühle funktionieren soll. Heute habe ich nun entdeckt, dass auch hinter Ratisbonne eine kleine Mühle gebaut wurde. Ob sie nur Dekoration ist oder einen Zweck erfüllt (wohl kaum als Windrad), habe ich nicht erkennen können.
Tag 4 - 13. Sept (30 Jahre Osloer Verträge)
Tag 3 - 12. Sept
Heute Treffen mit der Studienleitung von Studium in Israel an der Erlöserkirche mitten in der Jerusalmer Altstadt. Hier ein paar Fotos von der Kirche, die dieses Jahr (wie die evang. Kirche in Olpe) ihr 125jähriges Jubiläum feiern wird. Dazu gibt es später noch manches zu berichten (gerade auch mit Blick auf Olpe!).
Und noch ein Blick in den oberen Kreuzgang, der auf Kaiser Wilhelm II und sein Engagement im Heiligen Land und für die Deutsche Evangelische Gemeinde zurückgeht:
sowie in den wunderschönen, unteren Innenhof, der schon älter ist. Wie relativ der Aspekt des Alters in Jerusalem ist, wird einem deutlich, wenn man hört, dass Ausgrabungen unterhalb des Innenhofes ergeben haben, dass sich Reste aus einer wesentlich früheren Zeit finden lassen. Liegt die Erlöserkirche jetzt mitten in der Altstadt, in unmittelbarer Nähe der Grabeskirche, war zu Zeiten Jesu hier aber gerade nicht die Stadt zu finden.
Tag 2 - 11. Sept (´nine eleven`)
Nach einer langen Nacht ein morgendlicher Spaziergang ins Regierungsviertel von Jerusalem. Nicht ganz ohne schlechtes Gewissen weil ich nach bereits kurzer Zeit doch dem guten Rat meines Gästehaus-Direktors: ´Sie haben natürlich auch eine Klimaanlage im Zimmer. Die brauchen Sie aber nur tagsüber. In der Nacht reicht ein offenes Fenster.` widerstanden habe und die Klimaanlage angemacht habe.
Morgens, ich fiinde, irgendwie passend zum heutigen Tag, hinunter nach Kiryat Ben-Gurion:
Das
Beth ha-Knesset, also: das Haus der Versammlung. Es ist das
Einkammerparlament Israels. Der schöne Name ´Beth ha-Knesset` leitet
sich übrigens biblisch von der ´knesset ha-gdola`, der großen
Versammlung, ab (vgl. Neh 5,7). Die Nervosität scheint momentan groß zu
sein. Als ich mit meiner Kamera ´bewaffnet` auf einem breiten Gehweg an
der Kontrollschranke für Autos vorbeigehen wollte, wurde ich von dem
Beamten auf der gegenüberliegenden Seite in scharfem Ton gefragt, was
ich hier zu suchen hätte. Als ich ihm allerdings versicherte, nur Fotos
machen zu wollen, durfte ich weiter.
Hier ein besonders hintergründiges Foto. Es ist das Bild vom Finanzministerium und zugleich im ganzen Regierungsviertel das einzige Gebäude, das grün bewachsen ist. Warum? Darauf geben Israelis eine klare Antwort: ´Hier werden so viel Tränen vergossen, dass das Grün gut wachsen kann...`
Natürlich bin ich auch am Gebäude des Verfassungsgerichtes, dem Supreme Court, vorbeigegangen.
Erst vorgestern muss es in Tel Aviv wieder einen Protestmarsch von Tausenden Israelis gegen die Justizreform gegeben haben. In Jerusalem sind die Proteste anscheinend geringer und auch in den Zahlen kleiner. Dennoch habe ich innerhalb des Regierungsviertels die Zelte zweier entschiedener Gegner entdeckt:
Mein erster Eindruck hat mich nicht getäuscht. Rehavia, übersetzt ´Weite Gottes`, ist ein besonderes und auch geschichtlich äußerst interessantes Stadtviertel von Jerusalem.[1]
Der israelische Schriftsteller Amos Oz, der in den letzten Jahren immer wieder als möglicher Literaturnobelpreisträger gehandelt wurde und dessen autobiographischen Roman ´Eine Geschichte von Liebe und Finsternis` ich als Einstimmung auf meine Zeit in Jerusalem gelesen habe, ist hier einige Jahre zur Schule gegangen. Das Gymnasium Rehavia war, neben dem Hebräischen Herzlia-Gymnasium in Tel Aviv 1905 (!), nach seiner Gründung 1909 (!) überhaupt erst das zweite moderne hebräische Gymnasium des späteren Staates Israel. Es besteht heute noch und befindet sich in einer Parallelstraße. Wenn ich aus meinem Fenster sehe, kann ich die Rückfront des Gebäudes und die Sportanlagen sehen und höre vormittags in regelmäßigen Abständen eine kurze Melodie, die wohl als Schulklingel dient.
Liebevoll und zugleich ein wenig spöttisch beschreibt Oz in seiner Erzählung ´Fremdes Feuer` die besondere Stimmung in diesem Stadtteil: „Die Gründer des Viertels Rechavia haben viele Bäume gepflanzt, sie haben Gärten und Alleen angelegt, weil sie in den glühenden Steinen von Jerusalem ein schattiges, gepflegtes Viertel bauen wollten, in dem man am Tag das Klavier hört und in der Dämmerung Violine und Cello. Das Viertel verschwindet unter Baumwipfeln. Tagsüber stehen die kleinen Häuser schläfrig da, als ständen sie am Boden eines Schattensees.“ – Soweit die persönliche Sicht eines Erzählers.
Zum Entstehungshintergrund noch einige wichtige Fakten: Für Jerusalem bedeutete das Ende der osmanischen Herrschaft und der Einmarsch der britischen Truppen im Dezember 1917 und das vom Völkerbund im Juli 1922 anerkannte Mandat für Palästina einen wichtigen Einschnitt. Die Errichtung einer effizienten Verwaltung (Grundbücher wurden aktualisiert und Bodenbesitz rechtmäßig einge-tragen), große Investitionen in den Ausbau der Stadt sowie eine stärkere intellektuell-kulturelle Ausrichtung nach Europa führte auch städtebaulich zu einer Modernisierung Jerusalems, die sich beispielhaft an dem in den 1920er und 1930er Jahren erbauten Viertel Rehavia erkennen lässt. Die Namensgebung geht auf einen seiner frühen Architekten und Einwohner, Eliezer Yellin, zurück und hat in Moses Enkel (vgl. 1 Chr 23, 17) einen biblischen Hintergrund. Voraussetzung für die Gründung und die Bebauung des Stadtteils war 1921 der Ankauf eines riesigen Grundstücks von der griechisch-ortho-doxen Kirche durch die PLDC (Palestine Land Development Company). Wurde der Aufbau des ersten Teils der Siedlung in den 1920er Jahren noch sehr stark von bürgerlichen Familien sephardischer (also orientalischer) und russischer Herkunft bestimmt (auf sie gehen auch viele der an jüdische Gelehrte aus dem Goldenen Zeitalter Spaniens Straßennamen wie Abrabanel, Ibn Esra oder Ramban zurück), änderte sich das mit der fünften Alija (Einwanderungswelle), die zahlreiche deutsche Juden nach Palästina und damit auch nach Jerusalem brachte, die angesichts der diskriminierenden NS-Gesetze flohen, zeitweise von der britischen Mandatsmacht interniert wurden, emigrierten, der national-sozialistischen Verfolgung entronnen, Deutschland zwangsweise hinter sich lassend und es doch irgendwie immer mit sich tragend. Sie v.a. prägten in den 1930er und 1940er Jahren das geistige Leben Rehavias, sodass der Stadtteil zu einem Zentrum deutsch-jüdischer Ansiedlung wurde. Die Bebauung nahm massiv zu, die Einwohnerzahl vergrößerte sich erheblich, die Fläche verdreifachte sich. Der Stadtteil wurde zum ´Jeckenland von Jerusalem`. ´Jeckes`, so wurden die aus Deutschland stammenden Einwanderer genannt, weil sich die Herren weiterhin europäisch ausgerichtet im Anzug mit Schlips und Kragen, die Damen im Kostüm und Hut durch eine orientalische Kulisse bewegten.
Die Pläne des als einer Art zionistischen Musterprojekts errichteten Viertels gehen auf den ursprünglich aus Frankfurt am Main stammenden Architekten und Stadtplaner Richard Kauffmann (1887-1958) zurück. Zugrundeliegender Gedanke der Siedlung war der einer Gartenstadt. Jedes Haus sollte über einen eigenen Garten verfügen, nicht direkt an der Straße liegen und ebenso einen Mindestabstand zum Nachbarhaus haben. Die Idee war in Europa als Reflex auf die Industrialisierung entstanden, passte als Reflex gegen die Enge der seit Ende des 19. Jahrhunderts entstandenen jüdischen Viertel außerhalb der Mauern der Altstadt auch nach Jerusalem. So entstand schließlich mit Rehavia eine großzügig angelegte Gartenstadt voller Bäume und Hecken, hinter den Häusern ein großer Garten und davor noch ein kleiner Vorgarten. Zahlreiche Häuser lassen die funktionale Moderne des Bauhauses (klare, glatte Formen sowie einfache, kleine Fenster, Türen und Balkone) erkennen, die zugleich eine Verbindung mit der einheimischen Architektur eingegangen ist.
Mittlerweile ist Manches davon verlorengegangen. Viele Gärten mussten dem zunehmenden Verkehr weichen, am Rande der Siedlung sind hohe, mehrstöckige Gebäudekomplexe entstanden. Aber auch heute noch ist beim Spazierengehen durch die Straßen dieses Stadtteils der alte, besondere Reiz zu erkennen, der ihm in seinen Anfängen die bezeichnenden Namen ´Preußische Insel [sic!] im Meer des Orients` (so der israelische Stadtplaner David Kroyanker, geb. 1939) oder (in Erinnerung, vielleicht auch in Wehmut an den vornehmen bürgerlichen Westen) ´Grunewald im Orient`. Entsprechend schreibt die aus dem Berlin der 1920er Jahre emigrierte Dichterin Mascha Kaleko in einem Brief aus Jerusalem: „Rehavia – das ist das ´vierte Reich`, sozusagen, wo die deutschen Emigranten sich zu Israelis wandelten, beinahe Dahlemisch [sic!].“
Zum Schluss noch einmal der Erzähler Amos Oz. Insbesondere Rehavia war für die Eltern des kleinen Amos, die zunächst in dem ärmeren Viertel Kerem Avraham lebten, ein Ort der Kultur und des Intellektes, „durchflutet von Grün und Klavierklängen, in drei oder vier Cafés mit goldfunkelnden Kronleuchtern“. In ´Eine Geschichte von Liebe und Finsternis` schreibt Oz rückblickend auf diese Zeit, „daß das Jerusalem der zwanziger, dreißiger und vierziger Jahres des 20. Jahrhunderts, das Jerusalem der britischen Mandatszeit, eine faszinierende Kulturstadt gewesen war. Großkaufleute, Musiker, Gelehrte und Schriftsteller lebten dort: (…) Gershom Scholem, S. J. Agnon und viele andere berühmte Forscher und Künstler. Manchmal, wenn wir die Ben-Jehuda-Straße oder die Ben-Maimon-Allee entlanggingen, flüsterte Vater mir zu: ´Schau, dort geht ein Gelehrter von Weltruf.` Ich wusste nicht, was er meinte. Ich dachte, Weltruf habe etwas mit kranken Beinen zu tun, denn häufig war es ein alter Mann, der sich unsicheren Schritte an einem Stock vorantastete und auch im Sommer einen dicken wollenen Anzug trug.“
Zumindest an einige Namen bedeutender Persönlichkeiten, die hier in den Anfängen länger oder auch nur kurze Zeit gelebt haben, möchte ich noch erinnern. Else Lasker-Schüler, die große Wortakrobatin, in Elberfeld zur Welt gekommen, aber, wie sie selbst sagte, in Theben geboren und auf dem Ölberg begraben, hat hier ebenso gelebt („Ich habe zu Hause ein blaues Klavier / Und kenne doch keine Note…“) wie die aus dem wilden Berlin der 1920er Jahre kommende Mascha Kaleko, die, in ihren frühen Jahren wunderbar freche und in den späten Jahren der Emigration ebenso melancholische Gedichte („Wenn ich ´Heimweh` sage, sag ich ´Traum`. / Denn die alte Heimat gibt es kaum. / Wenn ich Heimweh sage, mein ich viel: / Was uns lange drückte im Exil. / Fremde sind wir nun im Heimatort. / Nur das „Weh“, es blieb. / Das „Heim“ ist fort.“) geschrieben hat. Aber auch Hannah Arendt, die für den New Yorker als Beobachterin des Eichmann-Prozesses für mehrere Wochen nach Jerusalem kam, und einige Jahrzehnte zuvor Hans Jonas[2], der als damals noch junger Philosoph hier an dem von 1935-46 bestehenden Kreis Pilegesch teilnahm, ein kleiner Zirkel bedeutender Forscher aus unterschiedlichen akademischen Feldern, der sich jeden Schabbat-Nachmittag in Rehavia traf, gehörten zumindest zeitweise zu den Bewohnern Rehavias. Es waren also keinesfalls weder nur Alte mit Weltruf noch allein Männer mit Weltruf, die Rehavia angezogen hat!
[1] Vgl. dazu www.wikiwand.com/de/Rehavia#google_vignette
[2] Vgl. dazu dessen Ausführungen in seiner Autobiographie: H. Jonas, Erinnerungen, Frankfurt a.M. 2003, S. 148ff
Tag 1 - 10. Sept 2023 (Anreise)
Die
Anreise war, allen Befürchtungen zum Trotz, wesentlich
entspannter als angenommen. Frühmorgens, es war noch stockdunkel, ging
es los.
Die Autobahn Richtung Frankfurt war menschenleer. Doch hinter Siegen
reihte
sich Baustelle an Baustelle und damit eine Geschwindigkeitsbeschränkung
an die
nächste. Am Flughafen wurde es dann hektisch. Es gab nur die Wahl
zwischen
einem Tagesticket im Parkhaus für 50 € und einem 10minütigen Haltestopp
an der
Eingangshalle des Terminal. Also gab es einen kurzen aber umso
liebevolleren
Abschied. Bei der Kontrolle zwei kuriose Situationen: Plötzlich war in
dem hektischen Ein- und Auspacken mein Pass weg. Ich hatte ihn in die
Außentasche im Rucksack gesteckt. Nach dem Sicherheitsscheck war er da
aber nicht mehr. "Bleiben Sie ruhig und nehmen Sie sich Zeit!" so der
gelassene Kommentar der Sicherheitsbeamtin. Und tatsächlich! Ich hatte
eine zweite Tasche am Rucksack übersehen. Nach dem Abscannen wurde ich
zuvor herausgerufen, freundlich zur Seite gebeten und aufgefordert,
meine Schuhe auszuziehen. Nun gut, meine Füße waren frisch gewaschen und
ich hatte nicht nur saubere, sondern neu gekaufte Socken an... Der
Beamte untersuchte zunächst die Schuhe und tatstete dann meine Füße ab.
Das war nicht ganz ungefährlich. Bin ich doch extrem kitzelig. Aber er
machte das äußerst geschickt und routiniert, sodass ich nach kurzer
Zeit wieder aufstehen und weitergehen durfte. Was er wohl in meinen
Schuhen oder auch an meinen Füßen gesucht hat?? In der Wartehalle vor
dem Zutritt in den Flieger eine Beobachtung, an die ich mich bei meinen
beiden vergangenen Israelreisen nicht erinnern kann. Gleich mehrere
jüdische Passagiere packten ihren Tallit (Gebetsmantel, -tuch) aus der Tasche, zogen
ihn über den Kopf und sprachen ein Reisegebet. Als Christ beobachte ich
das mit einer gewissen Verlegenheit. Wir steigen in den Flieger und sagen uns: ´Es wird schon gut gehen! Warum auch nicht!?` Schmunzeln
musste ich allerdings, als ein junger Mann sein Sweatshirt auszog und
darunter ein Superman-T-Shirt zum Vorschein kam, über das er seinen
Tallit zog. Mit reichlich Verzögerung ging es dann endlich in die Luft.
In Tel Aviv stellte sich dann die Frage der Weiterfahrt. Für die
Weiterfahrt mit der Schnellbahn brauchte es eine aufladbare Bahncard.
Also eher nicht. Als ein teures Taxi oder ein preiswerteren
Gruppenshuttle? Von einem freundlichen Fahrer angesprochen, entschied
ich mich spontan für Letzteres. Auf der Schnellstraße nach Jerusalem war
die Fahrt nichts Außerghewöhnliches. Dass Fahrer in südlichen Gefilden
sich ungern an irgendwelche Geschwindigkeitsbeschränkungen halten und
jede erdenkliche Lücke nutzen, um schneller voranzukommen, hatte ich
schon öfter erlebt. Innerhalb der engen Gassen vor Jerusalem wurde es
allerdings spannend. Mit sicherer Hand und oft immer noch mit erhöhtem
Tempo fuhren wir durch enge und auch kleinste Gassen. Dennoch war ich
froh, seine Fahrkünste nicht länger als nötig bewundern zu müssen und
als einer der Ersten den Bus verlassen zu dürfen. Nach 14 Stunden saß
ich schließlich glücklich, aber auch sehr müde auf dem
Bett in meinem neuen Zimmer. Bei meinem kurzen, abendlichen
Spaziergang entdecke ich amüsiert, dass ich bereits bei meiner ersten
Israelreise nur wenige Straßen weiter in einem Hotel hier gewohnt habe. Schon
damals war mir der Stadtteil durch seine besondere Atmosphäre aufgefallen. Es
ist ein grünes Viertel mit sehr viel Baumbestand und Grünstreifen rund um die
Wohnhäuser, meist sehr kleine Straßen, die stadtplanerisch aber sehr klar
strukturiert sind, sodass man sich schnell zurechtfinden und gut orientieren kann.Nach dem Auspacken der Koffer
schließlich nach wenigen Seiten in Eve Harris Roman ´Die Hochzeit der
Chani Kaufmann müde ins Bett.`
Hier ein Bild von Ratisbonne, in dem ich untergekommen bin. Ein wunderschönes Kloster, das von Marie-Alphonse Ratisbonne (daher der Name) gegründet wurde. Der Komplex selbst wurde 1874 auf einem kargen Hügel gebaut und liegt heute mitten in Jerusalem, nur wenige Hundert Meter von der Altstadt entfernt.
Das Kloster verfügt im hinteren Bereich über ein Gästehaus, das, wie ich bisher nur gehört habe, international belegt ist. Mal sehen, wen man alles aus welchen Ländern trifft:
Hier noch ein Blick aus meinem Fenster
und einer auf meinen Schreibtisch.
Für drei Monate mit leerem Koffer voller Fragen nach Jerusalem...
Warum ein Studiensemester ausgerechnet in Jerusalem? Woher kommt der Wunsch zumindest für drei Monate in Israel zu studieren? - Dazu ein kleiner Rückblick:
Meine ersten Erinnerungen daran, dass ich etwas von Israel hörte, reichen weit zurück. Ich muss sechs oder sieben Jahren alt gewesen sein. Im Kindergottesdienst und im Religionsunterricht in der Grundschule wurden Geschichten darüber erzählt. Der alte Abraham, sein Neffe Lot, die streitenden Brüder Jakob und Esau, der junge Joseph und Potiphar: Für mich, wie viele andere Kinder im Kindergottesdienst damals, fremd klingende Namen, Figuren wie aus 1001 Nacht. Wer hieß in unserer Straße schon Abraham und kam aus Ur in Chaldäa?! Wo das wohl lag? Und was hätten wir uns über einen Jungen lustig gemacht, den seine Mutter ausgerechnet Esau gerufen hätte?! Hier aber passte alles zusammen. Es roch orientalisch, irgendwie wie in Mutters Gewürzschrank. Menschen, die in Zelten wohnten und mit ihren Tierherden umherzogen – das klang spannend und versprach Abenteuer, das regte unsere Phantasie an und machte neugierig auf mehr. „Geh, Abraham, geh“, Text und Melodie klingen mir noch heute im Ohr, „mach dich auf den Weg“ sangen wir und gingen in Gedanken begeistert mit.
Dass dieses Land Israel keine märchenhaftes Phantasiewelt war, sondern auf dem Globus, der in unserem Wohnzimmer stand, zu finden war, lernte ich wenige Jahre später. Im Oktober 1973 kam es zum Jom-Kippur-Krieg. In den abendlichen Nachrichten sah ich Bilder von dem Land, das für mich bisher soweit weg war wie der Königshof von Samarkand oder die Stadt Chorasan, wo das Märchen von 1001 Nacht erzählt wurde. Das Land Israel aber war real und gab es heute noch. Aus der Tageszeitung schnitt ich die Landkarten aus und klebte sie in mein Religionsbuch neben die biblischen Geschichten. All das muss Eindruck auf mich gemacht haben. Denn ich kann mich heute noch recht gut daran erinnern.
Auch eine weitere, einschneidende Erinnerung ist durch Fernsehbilder vermittelt. 1982, ich bin in der Oberstufe und stehe kurz vor dem Abitur, kommt es zum Libanon-Krieg. In unserer Stufe kommt es zu hitzigen Diskussionen über das Verhalten Israels gegenüber den Palästinensern. Als einzelne Mitschüler mit der Kufiya, dem Palästinensertuch, zum Unterricht erscheinen, werden sie von Lehrern zurechtgewiesen und aufgefordert, jedwede politische Zeichen in der Schule zu unterlassen. Ich selbst bekam mehr und mehr eine Ahnung davon, wie schwierig und komplex die politische Lage dort war, begann mich dafür zu interessieren und kaufte meine ersten Bücher über Israel und den Zionismus.
Eine ganz andere Begegnung mit dem Thema Israel folgte dann im Rahmen meines Theologiestudiums in Bethel, am Ende des SS 1987. In jedem Semester organisierten wir als Studenten unabhängig von der Hochschule einen eigenen dies academicus, einen Tag gemeinsamen theologischen Lernens. Ich kann mich nicht mehr erinnern, wie der Vorschlag, den Tag unter das Thema ´Christen und Juden` zu stellen, aufkam, aber für mich war es eine der eindrücklichsten Studienerfahrungen. Wir stellten Kontakt zur jüdischen Gemeinde in Bielefeld her, organisierten verschiedene Arbeitsgruppen und luden den Alttestamentler Rolf Rendttorff aus Heidelberg zum einleitenden Hauptreferat ein.
In einer durch Luthers Theologie geprägten Kirchengemeinde
groß geworden und in den ersten Studiensemestern fasziniert und intensiv mit
der Theologie Bultmanns beschäftigt, fand ich das Alte Testament zwar
interessant, hatte auch, anders als Latein und Griechisch, Hebräisch mit Freude
und einer gewissen Leichtigkeit gelernt, aber das Eigentliche, das Zentrum, da
war ich mir sicher, muss doch das Neue Testament sein. Das Christentum stand
letztlich im Gegensatz, zumindest aber überlegen über dem Judentum. Das Alte
Testament heißt alt, nicht weil es wie ein alter, kostbarer Wein war, sondern
weil es veraltet, erst mit dem Neuen Testament in rechter Weise zu verstehen
war. ἐγὼ δὲ λέγω ὑμῖν … hatte Jesus in der Bergpredigt gesagt. Hier war der Gegensatz doch mit
Händen zu greifen. Ich aber sage euch … (Mt 5, 21 u.ö.). Das eine
philologisch-grammatikalisch korrekte Übersetzung inhallich problemtisch, ja,
theologisch fraglich sein kann, dass Jesus als Jude jüdisch denkt und spricht,
habe ich erst später verstanden. Der Dies academicus 1987 aber ist rückblickend
wie ein Einschnitt. Ich lernte, dass Hebräisch keine tote Sprache, sondern mit Ivrit
die lebendige Sprache gegenwärtiger jüdischer Menschen war, und ich fing erst
jetzt an, umfassend (im Sinne des biblischen יָדַ֖ע) zu erkennen, dass die alttestamentlichen Texte Texte der
jüdischen Bibel sind und es bleiben. Als Christen und Juden lesen wir die
gleichen biblischen Schriften als Heilige Schrift. Das können wir als Christen
aber nur dann angemessen tun, wenn die verschiedenen Lesarten nicht in
vermeintlich überlegenem Gegensatz stehen, sondern sie sich im Kontext ihrer
je spezifischen Tradition respektieren. Daran gilt es (gegen Marcion gestern
bis Slenczka heute) unbedingt festzuhalten: Die hebräischen Schriften gehören
fundamental zu uns Christen, aber sie gehören uns nicht . . Zugleich standen diesem Verständnis jedoch wichtige Lehrer meines Studiums entgegen. In der Diskussion um den Rheinischen Synodenbeschluss von 1980 zu dem neuen Verhältnis von Christen und Juden stand fast die geschlossene Bonner theologische Fakultät, mein zweiter Studienort, mit ihrem Gutachten bzw. ihrer harschen Kritik entgegen. Und auch in Münster, dem dritten und letzten Studienort, war die Mehrheit der Theologieprofessoren kritisch bis ablehnend. Eine große Seminararbeit über das paulinische Verständnis über die Juden in Röm 9-11 habe ich schließlich abgebrochen, weil ich merkte, dass ich mit meiner Sicht nicht nur keine Chance hatte, sondern dass bereits jede Gesprächsbereitschaft darüber ausgeschlossen war. Es war die Zeit, in der fleißig Ketzerhüte verteilt wurden und oft schon wenige Sätze genügten, um Positionen im Für und Wider zu verorten.
Relativ spät, erst 2013 und 2015, folgen dann die ersten beiden Reisen nach Israel. Sie waren aufregend und zugleich enttäuschend. Warum? Vielleicht v.a. deshalb, weil ich nicht so viel touristischen Hochglanz und dafür mehr historischen Tiefgang erwartet hatte. So glich die Reise eher einer Pilgerfahrt zu allerlei Orten, an denen es jeweils im Brustton der Überzeugung heiß: "Hier und nirgends anders war Jesus, hat Jesus, wurde Jesus..." Beeindruckende Ausnahme war bezeichnenderweise Massada. Die archäologisch erst in den 60er Jahren wieder ausgegrabene Festungsanlage des Herodes mitten in der Wüste, in der eine Gruppe jüdischer Widerstandskämpfer im jüdischen Krieg 74 n.Chr. den Tod fanden. Der Jüdische Historiker Flavius Josephus gibt darüber in seiner Darstellung De bello Judaico einen eindrücklichen Bericht.
Eine Rückkehr zur Bedeutung und zu den Inhalten des Verhältnisses von Christen und Juden ergab sich in den letzten Jahren dann im Rahmen einiger Kollegs des Pastoralkollges. Unvergessen sind die Wochen mit Jürgen Ebach, mit Frank Crüsemann und Magdalene L. Frettlöh. Sie alle machten mir noch einmal deutlich, dass es notwendig und lohnend ist, weiter diesen Fragen nachzugehen und ordentlich(e) Theologie zu treiben.
So fahre ich mit leerem Koffer voller Fragen nach Israel. Denn: Wer hat schon die Wahrheit!? Allenfalls sind wir auf der Suche nach Erkenntnis.
"Geschichte nimmt ihren Anfang in der Erinnerung. Wer gedenken will und sich erinnern kann, der braucht aus der Geschichte nicht zu lernen." und "Das Judentum beginnt bei Abraham, und schon mit ihm erreicht es sein hohes Alter."
Das sind zwei Sätze, nachdenkliche Aphorismen, also zum langesamen nachdenken empfohlene Sätze des wunderbaren israelischen Aphoristikers Elazar Benyoëtz. Ein in der Wiener Neustadt 1937 geborener österreicherischer Jude, der als Israeli in der fremden Muttersprache Deutsch wunderbare Texte schreibt. Ich habe sie an den Anfang gestellt, weil sie ein wenig das Projekt beschreiben, das ich mit in diese drei Monate Studiensemester in Jerusalem genommen habe. Immer wenn Zeit bleibt und Gelegenheit besteht, möchte ich den biblischen Geschichten Abrahams nachgehen. Der Alttestamentler Frank Crüsemann hat mich mit zwei seiner Aufsätze auf diese Spur gebracht. Denn bei Abraham beginnt nicht nur das Judentum, es beginnt sogleich auch das Verhältnis zu den anderen Völkern.
Dazu eine kurze Gedankenskizze meines Projektes, das für diese drei kurzen Monate wahrscheinlich viel zu weit gesteckt ist:
Eines meiner Lieblingslieder im Gesangbuch seit Kindergottesdienst-Tagen ist „Lobe den Herren“. In der Konfirmanden-Zeit haben wir über „Alles, was Odem hat, lobe mit Abrahams Samen“ verlegen gekichert. Seit Studientagen aber ist mir gerade diese Zeile immer wichtiger geworden, sodass nach der Gesangbuchrevision 1996 meine Enttäuschung groß war, weil diese Zeile in der ökum. Fassung mit „Lob ihn mit allen, die seine Verheißung bekamen“ nicht nur geglättet, sondern zugleich im Sinn verändert wurde. „Lobe mit Abrahams Samen“, damit wurde die Kirche hörbar erinnert, dass das Gotteslob nicht mit ihr beginnt, sie allenfalls zu- und einstimmen kann, die Gottesgeschichte aber lange vor ihr ihren Anfang nahm. Durch „Lob ihn mit allen, die seine Verheißung bekamen“ wird diese primäre und unaufhebbare Abrahams-Kindschaft Israels unsichtbar gemacht, im schlimmsten Fall sogar (wie so oft in der Christentums-Geschichte) durch eine der Kirche verdrängt und ersetzt.
Die veränderte Strophe wurde mir zum Stolperstein. Auf diese Weise zunächst irritiert und wieder auf eine alte Frage aufmerksam geworden, ließ mich das Thema „Abraham / Israel und die Völker“ nach erster Beschäftigung im Studium und später zu Beginn meines Pfarramtes nicht mehr los. Nun ist besonders durch K.-J. Kuschel und B. Klappert seit einiger Zeit Abraham und die Formel von den „abrahami(ti)schen Reli-gionen“ als mögliche Basis für den interreligiösen Di- / Trialog angeführt worden. Letztlich handelt es sich dabei allerdings um eine Außenperspektive. Bleibt doch die Frage, ist es auch ein und derselbe Abraham, der in den unterschiedlichen, religiösen Schriften begegnet, letztlich offen. Auch kann ein solcher Zugang dazu führen, die einzigartige Beziehung zwischen Abraham und Israel anzutasten bzw. aufzulösen. Sinnvoller ist eine spezielle Innenperspektive. Nimmt die Abrahams-Geschichte doch bereits in der Thora eine partikulare und zugleich universale Perspektive ein. Programmtisch werden in Gen 12, 1-3 das Gesegnetwerden Abrahams (und damit Israels) und der Menschheit ins Verhältnis gesetzt. Ist die Urgeschichte, indem sie von der conditio humana erzählt, zugleich auf Israel ausgerichtet (vgl. nur die Toledot-Formel oder auch die Bedeutung des siebten Tages als Ruhetag), hat umgekehrt die anschließende Erzelterngeschichte, die von den Ursprüngen Israels und dessen Identität erzählt, immer zugleich die Völker (auch als Adressat dessen, was Israel gesagt ist) im Blick. Offen bleibt allenfalls, ob Abraham für die Völker als Segensmittler (G.v. Rad, Hexateuch) oder als Segensparadigma (E. Blum, Vätergeschichte) zu verstehen ist. Kommt also erst in der Ausweitung auf die Völker der Segen zum Ziel oder ist und bleibt es allein der Segen Israels und gilt für die Völker allenfalls wie Abraham gesegnet zu sein? Vielleicht ist der Gegensatz aber auch zu hart formuliert und es geht vermittelnd um eine Einbeziehung der Völker, ihr Mitgesegnet sein mit Israel (M. Frettlöh, Segen), das allein ein Segen selbst ist. Wie auch immer: An Abraham / Israel vorbei gibt es für die Völker keinen Segen. Und (so Gen 12, 3a): Das Verhalten gegenüber Abraham / Israel (ent)scheidet zwischen Segen und Fluch.
Ist dieser Anfang der Abrahams-Geschichte programmatisch, stellen sich Fragen: Wie geht es weiter und wie sind die Völker in die weitere Geschichte erzählerisch eingebunden? Wie gestaltet sich die Beziehung zwischen dem Volk, zu dem Abraham werden soll, und den übrigen Völkern?
Wer die nachfolgenden Geschichten von Gen 12, 3 her liest (Fr. Crüsemann, Abraham – EvTh 2002), stößt auf zahlreiche Verknüpfungen: Heißt es doch gleich zu Beginn in Gen 12, 6 ´Das kanaanäische Volk wohnte im Land` (vgl. Gen 9, 25: ´Verflucht sei Kanaan`). Sodann wird der ägypt. Pharao, der (getäuscht) Sara zur (Neben)Frau nimmt, nicht gesegnet, sondern laut Gen 12, 17 mit Plagen geschlagen. Nach Streitigkeiten zwischen den Hirten teilt Abraham das Land laut Gen 13, 8ff friedlich mit Lot, der (Gen 19, 30ff) zugleich Ahnherr (vgl. insges. zur Bedeutung der Genealogien Th. Hielke, Genealogien) für die problematischen Nachbarvölker Moab und Ammon ist. In dem rätselhaften Kapitel 14 mit Melchisedek wird dann erstmals ausdrücklich (Gen 14, 19) von der Erfüllung der Vorgabe des Segnens erzählt. Bedeutsam ist auch der Erzählstrang von Hagar und Ismael (Th. Naumann, Ismael). Ausgerechnet eine Ägypterin gibt Jhwh einen (neuen) Namen (Gen 16, 13), weil er sie sieht und (auch) ihr Elend wahrnimmt oder aber sogar sie (?) Gott sieht (Kl. Koenen, Wer sieht wen – VT 1988). Der Sohn Ismael, dessen zahlreiche Nachkommenschaft (Gen 25, 12ff) für verschiedene arab. Stämme steht, wird ebenfalls zu einem Verheißungsträger und ausdrücklich (Gen 17, 20) in den Segen hineingenommen. Auch die Namensumbenennung Abrahams und Saras und v.a. deren Begründung (Gen 17, 4f+14f) bestätigt das erzählerische Interesse an den Völkern. Die Geschichte von Sodom und Gomorra, ausländische Symbolstädte des Bösen, fragt schließlich nach dem angemessenen Verhalten Gottes und lässt Abraham unter bewusster Aufnahme seiner Funktion für die Völker (Gen 18, 18) zum Fürsprecher (Gen 18, 23ff) werden. Nach allen Ver-heißungen an Abraham ist schließlich das erste Stück eigenes Land die in friedlicher Verhandlung mit den Hethitern (Gen 23, 3) als Grabstätte Saras erworbene Höhle Machpela.
Israel steht gerade in seiner Sonderrolle also auch in einem bleibenden Bezug zur Vielfalt der Völkerwelt. Sind die Erzväter- wie die Exodusgeschichte zunächst je selbständige Ursprungsgeschichten für Israel (K. Schmid, Erzväter), fällt um so mehr auf, dass in der Genesis anders als in Exodus das Zusammenleben mit diesen anderen Völkern (vgl. etwa Gen 14, 13 & 21, 27.32 mit Ex 23, 32 & 34, 12.15) auf der Grundlage friedlicher Begegnung (St. Leibold, Konvivenz) möglich und gewollt ist. Die wenigen Andeutungen zeigen bereits, was für ein weites Feld sich hier auftut, dem ich, den Spuren Abrahams textlich folgend, nachgehen möchte.
Gleichzeitig möchte ich nicht nur in klassisch historisch-kritischer Leseweise die Abrahams-Texte zu verstehen suchen. So bin ich in den letzten Jahren mehr und mehr auf die Midraschexegese aufmerksam geworden, haben mich ihre vielfältigen Möglichkeiten neugierig gemacht. Zunächst war es nur die Entdeckung, dass zwischen Rezeptionsästhetik (U. Eco, Grenzen der Interpretation) und jüdisch-rabbinischer Schriftauslegung zahlreiche Strukturanalogien bestehen, die (anstelle eines oft problematischen Objektivitätsanspruchs traditioneller Exegese) zu einer unabschließbaren Offenheit und Vielfalt in der Auslegung (G. Stemberger, Midrasch und M. Grohmann, Aneignung der Schrift) führen. Dann aber war es v.a. auch die Einsicht, dass, wenn das AT zuerst und bleibend die jüd. Bibel ist, christl. Exegese keinen Alleingeltungsanspruch erheben darf, die rabbin. Auslegung sie vielmehr daran erinnert, wie die jüd. Bibel noch, nämlich bis heute, im Kontinuum jüd. Geschichte verstanden werden kann (R. Rendtorff, Rabbin. Exegese).
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